Der König von Burgund und der Bastard, Kapitel 1

Dieses Kapitel braucht noch einen Titel!

Unten stehen Erläuterungen. Das Kapitel ist ziemlich lang, 5000 Wörter, das ist oberer Durchschnitt für die Kapitel in Romanen.

Los geht’s:

Zum ersten Mal seit seiner Krönung schien es König Gunther, dass er wohlgewappnet war für die Mühen und Kämpfe der Herrschaft. Die Sorgen waren verblasst wie Nebel im Frühlingsmorgenlicht, die bangen Ängste zogen sich zurück, und der Untergang, mit Feuersbrünsten, Schwertgeklirr und einer Sintflut nur aus Blut war bloß ein Hirngespinst, entstanden aus der Hilflosigkeit des führungslosen Jünglings. Fern lag alles, und könnte kaum ja eintreten. Er kam sich vor wie ein Mann, der bisher ohne Rüstung und Schwert in die Schlacht geschritten war, sich hatte ducken müssen vor jedem Schlag, und immer nur auf die Gnade des Himmels oder die Barmherzigkeit seiner Feinde hatte hoffen dürfen, denn selber kämpfen konnte er nicht. Jetzt aber war er gerüstet, brauchte nicht Feind noch Eisen zu scheu’n, und wenn die Schlacht auch schrecklich tobte, würd’ er schon nicht unterliegen. Sein Schwert war schärfer als jedes andre, sein Panzer schirmte ihn fest und stark. Der sanftmütige König Gunther war fortan wehrhaft und würde bestehen im Kampf langer Jahre.

Er fasste die Lehnen des Throns mit sich’rer Hand und blickte in den Saal hinab. Seine Männer waren versammelt in großer Zahl, gekleidet in ihre kostbarsten Stoffe, geschmückt von prächtigen Farben und Edelsteinen feinsten Schliffs. Die Sonnenstrahlen blinkten feierlich auf Rubinen, Goldfädchen und Siegelringen; Festesfreude leuchtete in der ganzen Pfalz, und am allerhellsten hier in seinem Herzen. Dass sich hinter mancher frohen Friedensmiene schlecht versteckt der Gram verbarg, auch Missmut oder Eifersucht, das wollte er heut noch nicht beachten. Für Argwohn war später Zeit.

Gespannt lagen die Blicke der Edlen auf ihm; früher hätte ihn das mit unwürdiger Aufregung erfüllt, sodass er so verlegen geworden wäre, wie es bei keinem Spross einer Königsdynastie möglich schien – aber seit gestern schüchterte ihn die Beachtung des Reiches nicht mehr ein. Fort war die Furcht, dass er ungehindert von Torheit zu Torheit stolpern würde; fort die Furcht, nicht zu wissen, was sagen, vorbei das Schwanken, Zaudern und Zagen.

Er gab dem Herold ein Zeichen, dass das Portal geöffnet werden sollte. Die Boten fremder Länder wollten ihm ihren Gruß erweisen, sich bedanken für die gastliche Aufnahme und mit schönen Worten ihn der Freundschaft und des Wohlwollens ihrer Herren versichern.

Er straffte den Rücken, ehe der Bote eintrat, und ließ ein gütiges, obgleich nichtssagendes Lächeln auf seinen Lippen erstarren.

Der Bote des französischen Königs kam als erster an die Reihe, wie es die Bande der Nachbarschaft und die Ehre seines Herrn geboten.

„Graf Fortpierre!“, rief der Herold klar und grell. Gunther neigte leicht den Kopf.

Der Franzose verbeugte sich tief, ehe er sprach: „Kein Wort wäre mächtig genug, edler König, um meine Bewunderung auszudrücken für das prächtige Fest, an dem teilzunehmen ich die Ehre hatte! Noch meinen Enkeln werd ich auf dem Sterbebett voll Verzücken von diesem Ruhmestag berichten, und meinem größten Erzfeind werde ich, zurück in meiner Heimat, sogleich in listiger Genüsslichkeit vom Prunk und Gepränge Eures Reichs erzählen, damit er sich noch bis ans Ende seiner Tage grämen mag, welche Wonne mir, jedoch nicht ihm, dank Eurer Gunst beschieden war.“

So waren die Franzosen alle – viele klingende Worte für die Dinge, die ein Schwabe oder ein Sachse mit einem einzigen Satz bedacht hätte. Gunther nickte kaum merklich. Der Franzose, begeistert vom Flitterwerk seiner Rhetorik, fuhr eifrig fort: „Darum ist es mir genauso sehr wie meinem Herrn ein herzenstiefes Bedürfnis, Euch Glück und Segen zu wünschen zur Belehnung Eures neuen Herzogs. Dass er Euch immerzu als treueste und erste Stütze dienen möge, das ist ganz Frankreichs aufrichtiger Wunsch.“

Gunther sah kurz zu Hagen hinüber. Er stand zu seiner Linken, an der Stelle des alten Herzogs, auch in derselben Haltung, eine Hand in der Hüfte abgestützt, den Kopf hoch erhoben, und völlig reglos. Nachdem Fürsten und Gesinde seinem Freund gestern mit wohlgemeinten Worten eine fruchtreiche Herrschaft, so viel Segen wie Regen an einem Novembertag, Augenmaß und kühlen Urteilssinn gewünscht hatten, verwehte Hagens seltene Heiterkeit plötzlich, und nichts blieb mehr zurück. Das merkte außer Gunther zwar keiner, denn Hagen gab sich äußerlich ungerührt wie sonst – er aber fühlte die Verwandlung, als träfe ihn frostiger Hauch aus Norden. „Was ist dir denn?“, hatte er ihn gefragt, indem er Hagen, den Weinkelch in der Hand, in eine Fensternische schob.

Wie er sich unbeobachtet hielt, gab Hagen alle Selbstbeherrschung auf und starrte in den Saal, als stünde er auf dem Schlachtfeld. „Sie wünschen mir jeder, dass ich dir treu dienen solle! Viele Jahre lang, bis zum Tod! – Ist das nicht offensichtlich, dass ich immer treu sein werd? Das versteht sich von selbst, das braucht man nicht erst zu erbitten, und es doch zu tun, ist eine Geringschätzung meiner Treue! Glauben sie, ich wollte dich verraten?“

„Unsinn“, hatte Gunther erwidert, „glaub mir, der ich schon einige Belehnungen vorgenommen habe: Es heißt nicht, dass man einen Mangel wahrnimmt und sich deine Treue herbeizuwünschen genötigt sieht – sondern das sagt man eben so!“

Nach einem kurzen Moment des Widerstrebens – denn so wie Gunther sich niemals gerne entschied, gab Hagen niemals gerne nach – sagte er „Na dann“, und nahm einen tiefen Schluck vom Wein.

Gunthers Mahnung wirkte auch heute noch: Hagen hörte die Glückwünsche ohne Grimm an und verneigte sich knapp zum Dank.

Der Franzose ergriff die Gelegenheit, um rasch weitere Wortgirlanden zu schlingen, bedachte die Königsmutter, die Damen und die vorzüglichen Fürsten mit seinem Lobpreis, auch die begabten Spielleute und die Schönheit des Festsaals, und erst als der Herold auf eine behutsame Geste Gunthers hin mit dem Beutel voller Münzen leicht zu klimpern begann, als wolle er gerade hineinlugen und nachzählen, kam der Franzose geschickt zum Ende und ließ sich zufrieden den Botenlohn überreichen.

Nach ihm durfte der sächsische Abgesandte eintreten. Bis heute war sich Gunther noch nicht sicher, ob Otto ihm die versuchte Zurückeroberung des Lösegelds verziehen hatte. – Hagen musste ihm später raten, wie er sich den Sachsenkönig wieder gewogen machen könnte.

„Edler König, meinen Dank für das schöne Fest, und dem neuen Herzog alles Gute“, sagte der Sachse.

„Habt Dank für Euer Kommen und Eure freundlichen Wünsche“, antwortete Gunther.

Schon war der Sachse wieder fort; der Bote aus Xanten kam als nächster. „Feste feiern kann Burgund“, sprach er mit durchdringender Stimme. „Mein Herr König Siegmund schickt seine besten Wünsche, für Euch beide, König und Herzog, und für Euer Reich. Ausrichten soll ich von ihm, dass er sich noch gut an den seligen Herzog erinnert, an den Mann, der – an Gold und Silber vielleicht nicht der reichste unter den Herzögen des Erdenrunds – doch einen noch teureren Schatz angehäuft hatte: die Weisheit als Ernte vieler Jahrzehnte.“

Eine leichte Bewegung rollte durch die Menge; es blieb nicht unbemerkt, wenn ein König eine Warnung aussprechen ließ.

Gunther legte die Hand ans Kinn und blieb ansonsten reglos. Hagen würde die Sorgen des alten Königs Siegmund zu zerstreuen wissen.

„Die Weisheit ist, darin sind sich mein Herr, der Eure und ich einig, ein Gut von unschätzbarem Wert. Aus diesem Grunde bedauern wir umso mehr das Ende meines Vaters, da ihn die Weisheit vor dem Leben verließ. Wir sind deshalb bestrebt, dieses kostbare Gut nicht nur selber über Jahre hinweg bedächtig anzusammeln, sondern wollen wie ein tüchtiger Kaufmann, dem keine Münze, sei sie noch so klein, zu wenig ist, die Weisheit schätzen, ganz gleich, woher sie stammt.“ Das hatte er mit demütigem Tonfall gesprochen, sodass, wer ihn zum ersten Mal getroffen hatte, sich wieder verabschieden würde mit dem Eindruck, dies sei ein sanftgestimmter Mann.

„Mein König wird sich freuen über Eure kluge Ansicht“, sagte der Bote. „Und gerne wird auch er mit seinem Rat dazu beitragen, dass Burgund das Alter und die Reife seiner seligen Verstorbenen nicht lange zu vermissen braucht.“

„Wir danken ihm dafür“, erwiderte Gunther. „Empfangt nun Euern Botenlohn als Pfand meiner Verbundenheit.“ – Und geht schnell, dachte er für sich. Schließlich hatte er schon seit seiner Krönung genug Klagen über seine Jugend und Unerfahrenheit gehört. Seit dem Tod des Herzogs waren natürlich noch Klagen über die Jugend und Wildheit seines neuen Lehnsmanns hinzugekommen.

Als der Xantener hinausging, warf ihm Hagen einen kurzen Blick zu und nickte ermutigend. An seinem zweiten Tag als Herzog war er schon gefestigt wie einer, der dieses Amt seit zwanzig Jahren innehatte. Wer zum Anführer geboren war, der gedieh im Glanz der Macht, wuchs heran wie ein starker Eichenstamm, und bot all denen Schutz, die, bekrönt und trotzdem bang, dem Sturm alleine nicht standhielten.

Der nächste Bote trat ein: Graf Ehrensam von Sigmaringen. Der war vorgestern, zur Verwunderung aller Leute, in der Begleitung seiner Gattin eingetroffen. Kein anderer Bote hatte jemals eine Frau mitgebracht. Gunther hatte beide wohlwollend empfangen und bewirtet. Jetzt kam der Schwabe jedoch ohne seine Frau. Er verneigte sich ausnehmend tief und sprach mit dem unverwechselbaren Mischklang aus nasalen und kehligen Silben: „Lieber König, ich seh Euch frohgemut an diesem schönen Morgen. Da trifft es sich gut, dass ich der letzte in der Reihe der Gesandten bin, denn mir obliegt die traurige Pflicht, den Kelch der Bitterkeit in die Festesfreude zu gießen. Was ich zu berichten habe, das hab ich bis heute verschwiegen, muss es nun aber verkünden mit Kummer im Herzen: Der edle Erbe unseres Herzogtums, Burchard, die Geisel bei den Hunnen, ist vor zwei Monaten im Kampf gefallen. Wir alle betrauern ihn sehr.“

„Nehmt mein tiefes Beileid an“, sagte Gunther und gab das steinerne Lächeln auf. Einige seiner Männer bekräftigten Burgunds Mitgefühl mit betrübtem „Ach“ und „Weh“.

Hagen hielt einen Augenblick lang inne, bevor er pietätvoll den Kopf senkte, als bringe der Verlust ihm Schmerz. Gunther wusste, dass er den Schwaben noch nie hatte leiden können.

„Ich werde eine Messe für den wackeren Burchard lesen lassen“, sagte Gunther, „damit seine Seele zum Heil finden darf.“

„Vielen Dank, guter König. Doch leider ist der Kelch mit Wermut noch nicht leer; das Unheil lässt von unserm lieben Schwabenland nicht ab! Der Herzog, unser geschätzter Herr, liegt an einer Krankheit darnieder, und Aussicht auf Genesung besteht nicht mehr.“

Dieses Mal entsprang die Betroffenheit seiner Männer nicht höfischem Anstand, sondern echter Bestürzung.

„Aber er befand sich doch bei bester Gesundheit, als ich ihn letztes Jahr noch traf“, rief Markgraf Eckewart.

„Die Krankheit kam rasch und unbarmherzig.“

„Wir beten für ihn“, sagte Gunther leise.

Graf Sigmaringen verbeugte sich. „Erlaubt Ihr, dass ich Euch noch genauere Auskünfte über die Lage des Herzogtums gebe?“

„Es ist mir ein großes Anliegen.“ Gunther erklärte den Empfang der Gesandten damit für beendet und entließ den Hauptteil der Versammelten. Niederadel, Äbte kleiner Klöster und Grafen mit mehr Stolz als Land sollten nicht dabei sein, wenn die Großen die Fäden des Schicksals knüpften.

Es blieben die Markgrafen Eckewart und Gerold von Trier, Ortwin von Metz, auch Volker von Alzey wegen seiner Fähigkeit, aufsteigenden Zwist zu zerstreuen, die Erzbischöfe von Mainz und von Trier, die Bischöfe von Worms und Speyer; Onkel Godomar und Gernot. Beim Hinausgehen mit der Mehrheit wandte sich Dankwart einmal kurz um und warf einen Blick zu seinem Bruder hinüber. Falls er sein Ungemach bedauerte, dann hatte er nur sich selber zu tadeln.

Die Fürsten kamen näher heran.

„Sagt, wie steht es um Schwaben?“, fragte Gunther.

Der Graf von Sigmaringen machte eine ernste Miene. „Uns drohen harte Jahre, falls nicht ein Wunder uns aus der Zwietracht retten wird. Der Erbe unseres Herzogs, der Sohn seiner zweiten Gemahlin, ist zarte sieben Jahre alt. Bis er volljährig ist, muss das Land von fähigen Regenten geführt werden. Seine Mutter, die kluge und umsichtige Elisabeth, ist bereit, diese wichtige Aufgabe zu erfüllen, wie es Recht und Tradition von ihr verlangen. Sie war es, die mich zu Euch gesandt hat mit der tränenheißen Bitte, dass Ihr für ihre Lage Mitleid habt. Doch eine Phalanx von Feinden stellt sich ihr entgegen, will mit der ehrwürdigen Sitte brechen, wonach die Herrscherin für ihren unmündigen Sohn das Szepter führen darf im Verein mit ihren Großen. Eine Schar mächtiger Männer beabsichtigt, ihr das Recht auf die Herrschaft abzusprechen, den Sohn fern von ihr zu erziehen, und sich zu versündigen wieder Sitte und Ehrfurcht. – Von Feinden umgeben, gibt es nur eine Hoffnung, die meine Herrin noch tröstet: dass ihr gütiger Nachbar, der fromme König von Burgund, sich der bedrängten Frau und des bald vaterlosen Kindes annehme und sie wacker verteidige zum Wohlgefallen Gottes und aller guten Menschen. – Das, lieber König, ist der einzige Inhalt ihrer tränenschweren Gebete.“

Die Heiterkeit der Freudenstunden fiel wie Laub im Herbst. Dass denn kein Land die eigenen Wirren selber lösen wollte …

„Ich bedaure sehr, dass Zwietracht über Eurem Reich liegt. Wir wollen nun beraten; in Eurer Kammer steht derweil mein bester Wein bereit.“

Der Gesandte zog sich rasch zurück.

Die Türe war gerade erst geschlossen, da rief Hagen heftig: „Die Gelegenheit ist ein Geschenk! Ja zu allem!“

Gunther schüttelte den Kopf. „Was? Nein!“

„Mein König, man bietet Euch die Schiedsrichterrolle in einem drohenden Bellus Civilis an – wenn Ihr sie annehmt, könnt Ihr nicht deutlicher beweisen, dass Ihr im Kreis der Könige trotz Eurer Jugend der herausragendste seit; die Zweifel an unserer Weisheit räumen wir aus, und niemand kann mehr bestreiten, dass König Gunthers Burgund ein Reich der Friedensliebe ist!“

„Wie Ihr es schildert, wird’s aber nicht werden. Geh ich nach Schwaben, spreche Recht und lasse ein Land voller Eintracht zurück? Nein, denn mein Vorschlag würde ein Dutzend Fürsten erzürnen, jeder fühlte sich benachteiligt, und am Ende stehen wir einem geeinten Heer von Feinden entgegen!“

„Das werde ich zu verhindern wissen“, sagte Hagen knapp. „Herr, bitte, seht die goldene Tür, die sich Euch geöffnet hat! Ein führungsloser Landeserbe, der Adel uneins – Ihr könnt Frieden stiften und nebenbei den Dank und die Bewunderung der Schwaben gewinnen!“

Was redete er denn mit Silberzungen! Nach den zwei stürmischen letzten Jahren wollte Gunther Ruhe fürs Reich, nicht sich gleich wieder in irgendwelche Abenteuer stürzen!

„Ihr weisen Fürsten“, sagte er eilig, „den Herzog habt Ihr gehört – jetzt bitte ich um Euren Rat.“

Neben ihm hielt sich Hagen hoch und triumphierend, als habe er seinen Willen bereits durchgesetzt.

„Der Herzog hat vermutlich Recht“, sagte Ortwin zögerlich. „Wir könnten nach Schwaben ziehen, wenn dessen Herzog gestorben ist.“

Hagen nickte ihm zu.

„Da Ihr als Schlichter ins Land gerufen werdet, sehe ich keinen Anlass, dieses Anersuchen abzuschlagen“, sprach Markgraf Eckewart. – Schon zwei!

Gerold von Rechtenberg, Markgraf von Trier, sah mit hochgezogenen Brauen zu Hagen hinüber. „Mich wundert es, dass der Herzog von Tronje, noch ehe er den Umritt in seinem neuen Lehen begonnen hat, sich schon in die Angelegenheiten anderer Länder einzumischen gedenkt.“

„Für den Umritt findet sich später Zeit genug, schließlich habe ich ja, wie man nicht müde wird zu wiederholen, noch viele Dekaden vor mir. Doch dass ein Nachbarreich uns um Hilfe anfleht, das können wir nicht unbeantwortet lassen.“

„Ich sehe nicht ein, warum wir die Bitte der Schwabenherzogin abschlagen sollten“, sagte Onkel Godomar. „Allerdings sollten wir darüber beraten, wem wir die Vormundschaft über den jungen Erben zuerkennen wollten.“

Gunther bemerkte, dass nach diesen Worten ein kurzes Lächeln über Hagens Gesicht zuckte; nicht ein mitfühlendes, sondern ein berechnendes, als sagte er sich heimlich: Zehn Schritte bin ich euch voraus, und habe alles schon bedacht.

Der Erzbischof von Mainz klopfte mit dem Hirtenstab auf die Fliesen. „Ich schließe mich den Befürchtungen des Königs an. Armes Schwaben: Wehe dem Land, dessen König – oder Herzog – ein Kind ist. Wenn wir Partei ergreifen, werden wir nur auf Undank und Nachtragerei stoßen.“

„Ja“, rief der Bischof von Speyer, „bleibt in Eurem frohen Worms, mein Herr!“

Gunther senkte dankbar den Kopf.

„Ich enthalte mich“, murmelte Gernot.

Bischof Meinrad von Worms redete als nächster. Seine Stimme war hart wie Holz, denn was er sagte, fiel ihm schwer: „Ich schließe mich der Meinung des Tronjers an.“ Das war eine Überraschung – diese beiden stritten sich seit dem Tag, da Hagen nach dem Tod des alten Herzogs im Kronrat stand.

„Auch wenn wir alle noch vom gestrigen Fest gezeichnet sind“, sagte Volker von Alzey, „schließe ich mich der Meinung des Bischofs von Worms an. – Es ist ja die Erfüllung Eures Herzenswunsches, dass man Euch für den besten Mann hält, um den Ölzweig des Friedens zu überreichen.“

Gunther atmete tief ein. Das war nicht so gegangen, wie er sich gedacht hatte. Er nahm die Hände zusammen. „Vielen Dank Euch allen. Ich werde gründlich abwägen und später entscheiden, wie wir verfahren.“ Die verschobenen Entscheidungen waren ihm immer die liebsten.

Nachdem er sich von den Fürsten verabschiedet hatte, ging er zur Kemenate hinüber, um seine Mutter zu sprechen. Sie hatte die Frau des schwäbischen Grafen bei sich gastlich aufgenommen und hatte gewiss einiges über die schwäbischen Ereignisse erfahren.

„Wie schön, dass du mich wieder einmal besuchst“, rief Mutter, als er eintrat, und schloss ihn gleich in die Arme. „Du solltest öfter kommen“, raunte sie ihm zwischen liebevollem Küssen zu.

„Mutter, Ihr wisst doch, dass er beschäftigt ist“, murmelte Kriemhild von ihrem Platz auf der Fensterbank aus, „er muss den Herzog davon abhalten, das ganze Abendland in Unordnung zu stürzen.“ Sie lachte in sich hinein.

„Überhaupt nicht“, sagte Gunther. Die anderen Damen begrüßte er so flüchtig, wie der Anstand es noch erlaubte; dann setzte er sich mit Mutter und der Gräfin von Sigmaringen in eine Ecke. Mutter forderte ihre Damen auf, ein wenig Musik zu machen, dem Freudentag zu Ehren. Gleich erklangen Harfentöne und froher Gesang. Nun konnten sie sich unbelauscht unterhalten.

Die Gräfin war von hoher, schmaler Gestalt, mit einem knorrigen Gesicht und einer Nase, die an Charakter und Größe der eines grob behauenen Marmorreliefs glich. Ihre kleinen, aufmerksamen Augen späten unaufhörlich umher oder richteten sich wissend auf ihr Gegenüber. Selten konnte Gunther bei Frauen nur vom Aussehen auf den Verstand schließen; bei dieser war er sich jedoch sicher, dass sie nichts, was gesagt wurde, vergäße.

Sie wechselten ein paar höfliche Floskeln, und Gunther drückte sein Bedauern über den Zustand des Schwabenherzogs und den Tod seines Erstgeborenen aus.

„Oh, wisst Ihr“, sagte die Gräfin, „wir trauern um den Jungen nur aus Pflichtgefühl. Er war seit Jahren bei den Hunnen, man hörte bloß bei der Rückkehr der Tributgesandtschaft von ihm, und sonst war er dem Lande fern wie der Priesterkönig Johannes oder die Pruzzen im ungebändigten Norden. Als wir von seinem Tod erfuhren, schien es mehr, als nehme die Geschichte eines Fremden ein Ende. Selbst sein Vater hat nur eine Stunde lang Tränen vergossen, und rief dann den neuen Erben an sein Krankenbett. Euer Herzog ist vermutlich der Einzige in Schwaben und Burgund, der Burchard besser kannte.“

„Ja“, sagte Gunther. „Obzwar er, das muss ich gesteh’n, sich nicht zu seinen besten Freunden zählte.“

Die Gräfin fuhr fort: „Mehr Schmerz bereitet uns das Leiden unseres Herzogs. Er wird bald sterben – was dann? Wird sein Sohn den Armen der Mutter entrissen, wird er zum Siegespreis des hochmütigsten Fürsten? Wird er aufwachsen in Unruhe, als Spielball der Großen, die ihn alle nur wegen seiner angestammten Rechte schützen, und ihn nichts Gescheites über Herrschen und Kämpfen lehren, damit er auch als Erwachsener angewiesen wär auf ihre Führung? – Seine Mutter, meine gute Freundin, fürchtet sehr um ihn. – Sie sprach auch in letzter Zeit, nein, immer schon, sehr beeindruckt von Euch, schätzte Euer Bücherwissen, Eure Demut und Eure Nächstenliebe. Sie seufzte ab und an sogar, wie lieb’s ihr wär, wenn ihr Sohn zu einem Mann wie Ihr heranwachsen würde.“

Übersüße Schmeichelei! Schmählich, dass ihn alle für derart selbstverliebt hielten, dass sie glaubten, das Rezitieren von Panegyrici auf ihn selber gewänne ihnen seine Gunst.

„Als Schwabe braucht er Vorzüge, wie ich sie nur in geringem Grade besitze“, sagte Gunther. Es freute ihn, wenn er die feinen Lügengespinste der Schmeichler ohne Verlegenheit zerriss. „Er braucht nicht Bücherwissen, sondern Bodenständigkeit; er braucht nicht Meister sein im Ausrichten von Festen, sondern im Bewahren tüchtig verdienter Schätze; er muss nicht mit vielen schönen Worten Nichts zu sagen wissen, sondern klar und stark die Wahrheit benennen können. – Was er als wackerer Schwabe wissen muss, das wird er lernen, ob bei seiner Mutter oder in der Obhut seiner Fürsten.“ Er gönnte der Gräfin als Entschädigung für seine Abweisung sein liebenswürdigstes Lächeln. Sie blinzelte kurz, ehe sie sich versöhnt gab und ihn anstrahlte.

„Erlaubt?“, murmelte er leise, küsste ihre Hand und wies dann freundlich zu den musizierenden Mädchen hinüber. „Ich möchte meine Mutter noch alleine sprechen – wegen der Nachwirkungen einer alten Verletzung aus einer Schlacht.“ Er erhob sich, als sie aufstand.

Erst nachdem die Gräfin bei den anderen Platz genommen hatte, setzte er sich wieder.

„Wie sehr freue ich mich, dass du dir einmal für mich Zeit nimmst“, sagte Mutter – als habe er gerade nichts anderes im Sinn als Geplauder.

„Mutter, warum hat die schwäbische Herzogin auch noch eine Frau zu uns geschickt?“

Sie langte herüber und zog seinen Umhang glatter hin, damit die Edelsteine auf dem Saum besser das Licht fangen konnten.

„Sie ging davon aus, dass ihr Wunsch, den Sohn bei sich zu behalten, bei mir auf Verständnis stoßen wird. Sie vermutet auch, dass du und ich wissen, wie wichtig es ist, dass ein heranwachsender Fürst den Segen mütterlicher Fürsorge erfahren darf.“

Gunther zuckte zusammen. „Bitte was?“

„Sie sieht dich als ein erstrebenswertes Vorbild“, fuhr Mutter fort. „Das ist auch völlig richtig, denn kein König vereint mehr Tugenden in sich als du. Sie bewundert das Verhältnis zwischen uns beiden schon seit langem, und den Stellenwert, den sie mir im Herzen meines lieben Gunther zuschreibt, will sie sich selber im Herzen ihres kleinen Hermann bewahren. Söhne brauchen ihre Mütter auch noch lange, nachdem sie es leugnen. – Wären alle Herrscher wie du, wär die Erde ein friedlicher Ort, sagt die Schwäbin.“

Er lehnte sich vor. Er musste seine gesamte Selbstbeherrschung aufbieten, um die Stimme gesenkt zu halten. „Sie will mich als Fürsprecher, weil ich ein Muttersöhnchen bin?! Weil ich sie wohl darin unterstützen würde, wie eine Glucke über dem Knaben zu kauern und alle wegzuhacken, die ihr nicht genehm sind? Sie glaubt, dass ich – oder vielmehr Ihr – sprechen werd: ‚Der Junge muss bei seiner Mutter bleiben und ihr immer gehorchen, weil sich das so gehört?’ – Oh, ich armer Mann, da mein Ruf erbärmlich ist!“

Mutter nahm seine Hand. „Ruhig, mein Stolz seit achtzehn Jahren. Ich stimme ihr vollständig darin zu, dass mein Sohn ein König ist, wie jeder sein sollte. Jedoch weiß sie nicht, dass er längst aufgehört hat, seine Mutter um ihr Urteil zu fragen, und es bevorzugt, dem Rat von Männern zu folgen.“

„Wie es auch sein muss“, zischte er wütend. „Habt Ihr mich denn vor der Botin wenigstens verteidigt, ihr gesagt, dass ich nicht von Frauen gelenkt werden kann?“

„Ich sagte nichts, was Grund zu Hoffnung oder Enttäuschung geben könnte.“

„Das ist – gut.“

„Sei mir nicht böse“, raunte Mutter sanft. „Ich habe keiner Entscheidung vorgegriffen.“

Er presste die Lippen zusammen und nickte. „Ich bin nicht auf Euch böse, das wäre ich nie. Aber auf die anderen, dass sie glauben, mich leicht wie ein Werkzeug verwenden zu können! Ich bin nicht völlig willenlos, nein!“ Er stand abrupt auf. Weil das der spähäugigen Schwäbin nicht entgangen war, schloss er seine Mutter dafür umso hingebungsvoller in die Arme, um jeglichen Verdacht, er sei verstimmt, zu zerstreuen.

Danach durchquerte er die Kemenate mit schnellen Schritten, beachtete nur Kriemhild, indem er ihr kurz zublinzelte, und rief erst an der Tür ein allgemeines „Auf bald“.

Der Zorn, bis jetzt noch mühevoll gezähmt, brodelte nun schäumend auf. Heuchlerisch rief man ihn als Schiedsrichter an, und wollte ihn über seine Mutter zum Fürsprecher formen! Die Weiber woben listig ihre Ränke, und glaubten, ihn, den unbedarften Braven, frech drin einzuspinnen!

Er sprang die paar Stufen in den Hof hinab.

An ihrem Ende stand Hagen, aufrecht und steinern, und wartete offenbar auf ihn.

„Hervorragend, dass du da bist“, sagte Gunther, „ich hätte dich ohnehin gerade herbestellt. – Hör zu, du wirst es kaum glauben können: Ich weiß jetzt, warum die Schwaben sich an mich wenden!“

Er wandte sich Richtung Hoftor und verließ die Pfalz. Während sie durch Worms’ Gassen gingen, angetrieben von Gunthers Aufregung, erzählte er auf Latein, was er eben erfahren hatte. Bürger und Gäste begrüßten sie freudig; ohne innezuhalten, wechselte Gunther dann jedes Mal ins Deutsche, sagte mit Bescheidenheit: „Habt vielen Dank“, oder „Gottes Segen, liebe Untertanin“, und fiel drauf ins empörte Latein zurück.

Hagen nahm die Glückwünsche der Leute mit huldvoller Geste hin und hörte schweigend zu.

Sie hatten schon die halbe Strecke Wegs bis zum Rheinufer zurückgelegt, als Gunther zum Ende kam. „Das denken sie also von mir!“

Fern von neugierigen Augen und Ohren nahm sich Hagen nicht länger zusammen. „Dass sich gar die Weibsbilder in die Führung des Reiches einmischen wollen! Frevelhaft und töricht! Oh, den nächsten Boten, der mit seinem Weib hier eintrifft, werd ich mit Hunden vom Hof hetzen!“

Zwei Ritter kamen von hinten angetrabt. Hagen verstummte, bevor sie nahe genug heran waren, um etwas mitzuhören. Als sie auf ihrer Höhe angelangten, riefen die Ritter ein herzliches Grüß Gott. Gunther und Hagen erwiderten es mit scheinbar ungetrübter Heiterkeit; drauf schwiegen sie, bis die beiden weit genug voraus waren.

„Doch seid unbesorgt, mein Herr“, sagte Hagen plötzlich gemäßigt, „ich weiß es wohl einzurichten, dass Ihr in Schwaben ganz nach Eurem Gutdünken richten könnt.“

Sie hatten den weißen Strand nun erreicht. Heute Nachmittag würde hier der Buhurt stattfinden; ein prächtiges Schauspiel für ein rauschendes Fest, wie es sich geziemte. Entlang des Strands, dem Ufer gegenüber, war die Tribüne errichtet worden; am nördlichen Ende des Platzes standen die bunten Zelte der großen Gästeschar. Zwölf Dutzend Fahnen, so viele wie Fürsten und Ritter erschienen waren, hingen an ihren Stangen entlang des Platzes und wiegten sich im sanften Wind nur müde und schwerfällig hin und her.

Die jungen Kerle, die allzu kampfbegierigen, hatten sich bereits heute Morgen zum Stechen verabredet, sprengten auf ihren Rössern über den Sand und brachen Lanze um Lanze. Kleine Gruppen von Zuschauern verfolgten das Treiben: Es waren hauptsächlich Niederadlige oder Ministerialen, alte Bürgersleute oder junge Bürgerstöchter, die ihre müßigen Stunden mit Begeisterung den kühnen Reitern widmeten. So gebannt waren die Scharen, dass sie ihren König und seinen Herzog nicht einmal bemerkten.

Ganz am Rande des Platzes stützten Gunther und Hagen sich auf die hölzerne Absperrung. Zehn Schritte zu ihrer Rechten kicherte und schwärmte eine Handvoll Mädchen, begleitete jede Bewegung ihrer Lieblingsritter mit ausführlichen Lobreden, und schirmte sie von der Aufmerksamkeit der anderen bestens ab.

„Ich zöge es vor, mich aus der Schwabensache herauszuhalten“, sagte Gunther. „Wenn ich nur wegen meiner angeblichen Nutzlosigkeit um Hilfe gerufen werde, erfüll ich die Erwartungen allzu gerne.“

„Gebt nichts auf das Gerede der Herzogin; ich und alle Vernünftigen kennen Eure Größe. – Doch in dieser Sache muss gehandelt werden! Uns öffnet sich eine Tür zu mehr Macht und Einfluss – Ihr müsst nur hindurchgehen.“

„Wer sich in anderer Länder Verhältnisse einmischt, spielt mit dem Feuer. Ich glaube kaum, dass uns die Schwaben als Retter empfangen werden.“

„Empfangen nicht, doch wieder verabschieden. Ich habe einen Plan, wie wir alles zum Besten Burgunds wenden können.“

Ein besonders wilder Ritter führte seinen Lanzenstoß so schwungvoll, dass der Widersacher sich nach dem Aufprall noch dreimal überschlug. Unter dem anerkennenden Gejohle der Männer fegte der Sieger zwei Runden über den Sand.

„Du meinst, dass unser Eingreifen ein gutes Ende haben würde?“, fragte Gunther verhalten.

„Natürlich, sonst würd ich’s Euch nicht raten. Wagemutige Abenteuer mit ungewissem Ausgang werd ich Euch niemals vorschlagen.“

Rechts am Rand brach Aufruhr aus, als zwei Ritter zu Fuß in Streit gerieten und sich ein paar Fauststöße versetzten.

Die Mädchenschar verfiel in Wehklagen, die Männer dagegen feuerten den Zwist bereitwillig an. Erst als einer von beiden zum Schwert griff, sprangen die anderen Kämpfer heran und trennten die Streiter.

„Ist das einer meiner Lehnsmannen? Ich erkenn ihn nicht von hier aus.“

„Ja. Richard von Silberquell.“

„Gut zu wissen, dass er ein Hitzkopf ist. – Vertraut mir, Herr, dass Ihr kein Scheitern zu befürchten braucht. Und seid unbesorgt; den Willen der Schwabenherzogin erfüllen wir nicht.“ Er lehnte sich zu Gunther und sagte ihm seinen Plan. Als Hagen geendet hatte, blickte er ihn mit füchsischer Erwartung an und zweifelte kein bisschen an sich.

Gunther seufzte. „Aber ich dachte doch, wir würden die ersten paar Jahre nur friedlich vor uns hinregieren!“

„Der Lauf der Zeit erlaubt uns niemals ein ruhiges Dahinfahren auf stillem Gewässer. Vielmehr muss ein König wie der Seefahrer die Gezeiten kennen und die Winde, zu seinem Vorteil beide nutzen, und wenn der Wind ihn zu den Küsten des Erfolges mit ihrem reichen Hafen treiben kann, dann gebieten es Voraussicht und Pflicht, die Segel zu setzen, bevor andere in den Hafen fahren.“

Vier Ritter griffen einander gleichzeitig an. Die Splitter stoben bis zu den Fahnen hoch, und einer musste gar bis zu den Bürgermädchen geflogen sein, denn eine Braunhaarige, etwas beleibtere bückte sich und rief, ihre Errungenschaft hochhaltend: „Schaut her! Ein Splitter vom schönsten Ritter!“ Die anderen wandten sich zu ihr herum, fielen verzückt in ihr Frohlocken ein – da stieß eine blonde ein schrilles Ächzen aus und schlug die Hände vor den Mund. Die Freundinnen folgten ihrem Blick. „Der König!“, wisperten sie überlaut, „und der Herzog!“

Kurz steckten sie die Köpfe zusammen, dann kamen sie her, die mutigsten vorneweg, die verschüchterten etwas langsamer.

„Lieber König“, riefen sie durcheinander mit flirrend hohen Stimmen, „wir wollen nur sagen, dass wir Euch wirklich gernhaben!“ Ein paar verstummten, verzagt wegen Hagens eisiger Unnahbarkeit; die anderen ließen sich jedoch nicht erschüttern und setzten hinzu: „Euch auch, Herzog!“ Die Allerkühnste erklärte gar, dass sie es übermäßig freue, dass man nun statt des ganz, ganz alten einen jungen Herzog habe. Gegen Ende des Satzes ging ihr die Luft aus. Verlegen zupften die Mädchen an ihren Zöpfen, scharrten mit den Füßen und wussten auf einmal nicht weiter.

Gunther bedankte sich bei ihnen, Hagen neigte sich ritterlich.

Die Schüchternen der Gruppe waren auch die umsichtigeren, zogen die Freundinnen am Ärmel und machten schon die ersten Schritte rückwärts.

„Dann stören wir Euch nicht weiter“, sagte die beherzte Blonde, und die Schar huschte wieder zurück an ihren alten Platz. Dort verfielen sie in entzücktes Getuschel. Auch die Kämpfer und die übrigen Zuschauer hatten inzwischen erkannt, wessen Anwesenheit sie ehrte; die Ritter gaben sich darum besonders kühn und stritten umso verbissener um den Sieg.

„Ohne Eure Erlaubnis werde ich nichts beginnen“, sagte Hagen, „doch wenn Ihr es gestattet, dann werde ich Euch Ruhm gewinnen und in Eurem Namen dem Schwabenland die Eintracht zurückgeben. Bitte, lieber Herr, habt Vertrauen zu mir und lasst mich für Euch Großes tun. Ich habe den Mut, zu gehorchen, wenn Ihr den Mut habt, zu befehlen.“

Gunther schaute zu königlichen Fahne hinauf. Sie war von allen die schwerste, reich beladen mit der funkelnden Pracht ihrer Steine, und brachte der unsichtbaren Kraft des Windes am meisten Widerstand entgegen. „Doch falls es misslingt …“, flüsterte er.

„Dann trag ich die Schuld, und ich trag sie so treu, dass kein Auge es jemals wagt, sich anklagend auf dich zu richten.“

Gunther ließ die Schultern sinken. Deshalb hatte er ja seit Monaten danach getrachtet, Hagen Amt und Macht zu verleihen, damit er ihn leite in allen Wirrnissen der Herrschaft. Er musste seiner Führung folgen. „Es sei.“

„Ich danke Euch, mein König.“

Das nächste Kämpferpaar fand sich zur Tjoste; ein glücklicher Lanzenstoß des einen warf den anderen wuchtig aus dem Sattel.

„Nicht nur das“, sagte Gunther heftig. „Außerdem reite ich heute beim Buhurt mit. – Ich will den Zweiflern zeigen, wer der Herr ist!“

Erläuterungen

Die Szene findet am Tag nach der Belehnung statt, also gleich im Anschluss an das Ende von Band 3.

Im ersten Absatz denkt Gunther darüber nach, dass er nun „wohlgewappnet“ sei für die Mühen der Herrschaft.

Dies bezieht sich natürlich auf Hagens Unterstützung, die durch die Belehnung jetzt einen „legitimen“ Status erhalten hat. Consilium et auxilium, Rat und Hilfe, waren die wichtigsten Pflichten, die ein Lehnsmann seinem Herrn schuldete. Dass Gunther auf Hagens Rat hört, ist nach mittelalterlicher Ansicht also keine Schwäche, sondern korrekte Herrschaftsführung. Allerdings war es nicht gern gesehen, wenn ein König in allen Fragen nur einem folgte. Dies ist ein Kritikpunkt, den die Fürsten im Laufe dieser Geschichte auch noch äußern werden …

„Er fasste die Lehnen des Throns mit sich’rer Hand“: Das ist eine abgewandelte Anspielung auf den Text der österreichischen Kaiserhymne, wo es heißt „Führ’ er uns mit weiser Hand“.

Die vielen Apostrophen: Wenn eine Silbe entfällt, setze ich oft einen Apostrophen. Dies kommt daher, dass ich früher sehr viele Versdramen las (oder selber schrieb) und Silbenzählen bei mir praktisch automatisch stattfindet. Tut mir leid, falls das den Lesefluss für manche hemmt. Mich reißt eine Silbe zu viel oder zu wenig immer gleich aus dem Rhythmus, darum ist mir das halt wichtig. Sorry!

„Rauschendes Fest“: Diese Formulierung bezieht sich auf den Brautchor in „Lohengrin“, wo es heißt: „Rauschen des Festes seid nun entronnen“. Wagner-Anspielungen gibt es hier ja immer wieder.

Es war meine Absicht, die Figuren viel zwischen den Zeilen sprechen zu lassen. Vordergründig höflich – implizit ein Vorwurf, eine Mahnung usw. Inwieweit mir das gelungen ist? Keine Ahnung. Machen wir weiter!

Siegmund von Xanten: Das ist der Vater von Siegfried. Gleich zu Anfang des Epos warnt er Siegfried vor Gunther und Hagen. Also ist es vielleicht erlaubt, wenn ich ihn mit ihnen agieren lasse und zeige, wie er zu seiner Meinung über diese beiden kam.

Die nebulöse „Warnung“, die Siegmund durch seinen Boten aussprechen lässt, ist eigentlich zu subtil. Die Herausstreichung der Weisheit von Hagens Vorgänger ist vielleicht ein leichter Affront und zugleich Aufforderung, sich, modern gesagt, politisch verlässlich zu zeigen, mit Augenmaß usw. Ich schrieb das 2021 und fand das damals super.

Hagen zumindest erkennt diese Warnung. Seine sonst überwiegend höfliche Antwort enthält deshalb auch eine kleine Spitze: dass die Weisheit seinen Vater vor dem Leben verließ. Damit ist der alte Herzog, den Siegmund ihnen als nachahmenswert vorhält, in seiner Vorbildfunktion ein wenig beeinträchtigt.

Ich weiß nicht, ob es deutlich wird, aber beim Schreiben beabsichtigte ich, zu zeigen, dass Gunthers neue Selbstsicherheit sich auf die einfachen Aufgaben seines Amtes beschränkt: wenn er brav einen Gruß sagen und ungefährlichen Smalltalk machen kann. Sobald es schwieriger wird, z.B. bei den verhohlenen Warnungen des Xantener Boten, springt Hagen ein. Im Laufe des Buches wird Gunther allerdings noch etwas besser im Umgang mit schwierigen Situationen werden. Ein Virtuose der Macht wird er jedoch nie: Diese Rolle ist schon vergeben …

Graf von Sigmaringen: Ich wollte erst eine erfunde Grafschaft nehmen, doch dann entschied ich mich für das echte Sigmaringen, in dessen Landkreis ich übrigens wohne.

Burchard und Hermann von Schwaben: Es wurden ganz bewusst Namen ausgewählt, bei denen man gleich „Schwabenland“ denkt. Es gab mehrere schwäbische Herzöge dieser Namen. Ein weiterer bekannter Träger des Namens Hermann ist der Mönch Hermann der Lahme aus Altshausen, Chronist auf der Reichenau, gestorben 1054. Ich war auch schon öfter in Altshausen, einmal sogar in der Schlosskirche, wo man seine Schädelreliquie sehen kann.

Als Gunther die unwichtigen Adligen entlässt und nur die wichtigen bleiben dürfen, zählt er alle Namen der noch Anwesenden auf. Bis auf Hagen. Dass der dableibt, versteht sich für Gunther schon von selbst.

Der Streit um einen unmündigen Herrscher, den die Fürsten seiner Mutter wegnehmen wollen, ist natürlich inspiriert vom jungen Heinrich IV. und seiner Mutter Agnes.

„Wehe dem Land, dessen König – oder Herzog – ein Kind ist“: Siehe Prediger 10,16

Das Gefasel, dass ein Schwabe lernen muss, wie man sparsam sei und so weiter ist natürlich ein totales Klischee.

Hoffentlich versteht man, warum Gunther sich ärgert: Die Herzogin von Schwaben denkt, dass er sehr mit seiner Mutter verbunden sei. Sie meint, er würde deshalb sofort eingreifen, wenn jemand einen Sohn von der Mutter trennen wolle. Sie glaubt, er würde sagen: „Ich brauche meine liebe Mutter und ihre Führung; jeder andere braucht das auch. Das geht nicht an, dass einer die Schwäbin von ihrem Kind trennt!“

„… dass er es bevorzugt, dem Rat von Männern zu folgen“: Ute verwendet hier nur aus Höflichkeit den Plural. Eigentlich meint sie „dem Rat eines Mannes“.

Gunther und Hagens Gezeter über die Frauen, die sich erfrechen, in der Politik mitmischen zu wollen, ist natürlich sehr gemein. Patriarchat eben.

Ich könnte hier kurz anfügen, dass die Herrscherinnen in der Zeit der Ottonen und Salier eine mächtigere Stellung innehatten als in der Stauferzeit, erkennbar zum Beispiel an der Häufigkeit, in der sie in Urkunden als Fürsprecherin genannt werden und so. (Für später: Bitte noch irgendwann ein Buch meiner Sammlung als Quelle einfügen!) Die Worms-Welt ist von der Stauferzeit inspiriert.

„werd ich mit Hunden vom Hof hetzen“: Im Nibelungendrama von Friedrich Hebbel lässt Hagen einmal die Boten vom Hof hetzen. Der Merowingerkönig Guntram (herrschte über das Teilreich Burgund), ließ laut Gregor von Tours ebenfalls Boten unhöflich vertreiben. (Für später: Bitte noch die Quellenangabe für die Guntram-Sache anfügen!)

Grüß Gott: könnte fürs Mittelrheintal um Worms zu südlich sein. Ich fand’s trotzdem süß.

Die Fahnen mit ihren obligatorischen Edelsteinen: Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, ob mittelalterliche Fahnen frei hängen wie die Fahnen in den Vorgärten zur WM-Zeit, oder ob sie an einem Querbalken hängen. Vexillologin sollte man sein …

„Ich habe den Mut zu gehorchen, wenn Ihr den Mut habt zu befehlen“: Das erste Bismarck-Zitat in Worms 4! Bismarck zu Friedrich Wilhelm I.: „Ich habe den Muth zu gehorchen, wenn E.M. den haben zu befehlen“