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Der König von Burgund und der Bastard, Kapitel 6

Ich habe keine Ahnung, wie ich dieses Kapitel nennen soll …

Das Kapitel hat 3700 Wörter, ist also mittellang bis lang. Die Anmerkungen schlagen mit 2000 Wörtern zu Buch! Dieses Mal gibt es auch viel zu erläutern.

Fünf Tage später ritt Hagen zu seiner Burg hinüber. Bevor er den Umritt antrat, plante er noch einige Maßnahmen anzustoßen. Mit Jubel eilten ihm die Burgbesatzung und das Gesinde entgegen, noch während er den Hang hinauftrabte.

„Herr, wie klug Ihr wart! Ihr habt uns Schwaben zum Bündnispartner und Freund gemacht!“

Er neigte sich vor ihren Lobreden. Begleitet von seiner Schar zog er in die Burg ein, sprang schwungvoll ab und gab Totenwache in die Obhut eines Pferdeknechts. Dann schritt er in die herzoglichen Kammern hinauf. Fortan waren sie die seinigen.

Mit dem Zeigefinger strich er misstrauisch über den Tisch – kein Staubkörnchen, wohlan. Am Rande des Tisches war jedoch ein Strauß Blumen aufgestellt worden von irgendeiner allzu wohlmeinenden Magd, und prunkte mit fröhlichen Farben. Den ließ er gleich hinaustragen – was sollten denn die Leute von ihrem neuen Herzog denken! Dass er umgänglich und liebenswürdig war? Unsinn!

Eilig ward Wein herbeigebracht; Pergament, Tinte und Federkiel standen schon bereit. Hagen schickte nach dem ersten, dem Schmied der Burg.

Der kam nach erfreulich kurzer Zeit, ein vierschrötiger Mann mit dem Kreuz eines Ochsen und sehnigen Händen, die er unbewusst an seiner Lederschürze abrieb. Notdürftig hatte er sich den Schweiß von der Stirn abgewischt, unter den Augen jedoch vergessen.

„Einen guten Mittag wünsche ich Euch, edler Herzog“, sagte er mit einer Lautstärke, die ihm nach langen Jahren des Befehligens über Hammerschläge und zischendes Wasser hinweg wohl in Fleisch und Blut übergegangen war. Umgeben von der Stille der herzoglichen Kammer, dem schweigenden Eichenholz und den reglosen Waffen zuckte er freilich selber zusammen vor seiner mächtigen Stimme.

„Danke“, sagte Hagen, und fügte hinzu, weil es immer klug war, sich die Zuneigung fachkundiger Leute zu gewinnen, „gleichfalls.“

Er deutete knapp auf den Stuhl gegenüber. Der Schmied nahm Platz. Auf seinem Gesicht zeichnete sich Bewunderung ab. Vermutlich hatte er mit dem vorherigen Herzog niemals wie von gleich zu gleich reden dürfen.

„Heinrich“, sagte Hagen, „man hat mir berichtet, du seiest der beste deiner Kunst im ganzen Herzogtum. Stimmt das?“

„Ach, Herzog, mit Verlaub, das ist sehr freundlich, aber ich will ja nicht angeben.“

Hagen nahm seinen Schild neben dem Stuhl, einen prächtigen neuen, noch unbemalt, und legte ihn zwischen ihnen auf den Tisch. „Hierfür brauche ich deinen Sachverstand. Wär’s möglich, den zu versilbern?“

Der Schmied betrachtete das Holz. „Ja, durchaus. Nur dass ich kein Silber habe.“

Hagen beugte sich erneut herab und hob einen Beutel mit Münzen auf. Als er ihn neben dem Schild absetzte, klingelten sie hell. „Sieh hinein, und sag mir ehrlich, ob das genug wär für den Überzug und deine Entlohnung.“

Der Schmied tat wie geheißen und stimmte herzhaft zu. „Aber – warum? Die Versilberung macht den Schild zwar schwerer, doch nicht viel stärker.“

Hagen lehnte sich zurück und zog eine Braue hoch. „Ich will’s dir gerne zeigen, wenn er fertiggestellt ist. Dann wird er mehr Waffe als Abwehr sein.“

Er bedankte sich knapp und entließ den Schmied.

Die nächsten, die eintreten durften, waren ein Zimmermann seiner Burg und der Wormser Dombaumeister. Die Arbeit des letzteren hatte sich, so sagte Gunther, in den vergangenen Jahren darauf beschränkt, nach Unwettern die Türme auf- und abzuschreiten und sonst durchreisenden Zimmerleuten das Gebälk zu zeigen.

Im Gegensatz zum Schmied waren sie vom Umgang mit Edelleuten wenig eingeschüchtert, neigten sich tief und erklärten sich stets zu Diensten.

„Nehmt Platz, schenkt euch Wein ein.“

„Danke Herr, danke!“

Hagen stützte die Ellenbogen auf und legte die Fingerspitzen zusammen. „Kennt ihr Belagerungstürme?“

Der Burgzimmermann erstarrte verlegen und schielte zum Dombaumeister hinüber, in der Hoffnung, dessen Beschlagenheit möge sie beide retten.

Zu seinem Glück und zu Hagens Zufriedenheit nickte der Dombaumeister. „Ja doch. Im Osten und südlich der Alpen finden solche Bauwerke noch ihre Verwendung; hier in der Mitte des Abendlands hat man keine je gesehen.“

Der Zimmermann murmelte zu Bekräftigung: „Ganz richtig.“

„Gut“, sagte Hagen. „Ihr sollt mir einen bauen, hier vor meiner Burg, einen voll verwendungsfähigen. Stellt so viele Leute an, wie ihr braucht. Wann könnt ihr anfangen, und wie lange wird es dauern?“

Der Zimmermann griff schnell zum Weinkelch, damit er zu beschäftigt für eine Antwort schiene. Der Dombaumeister enttäuschte Hagen nicht: „Aber Herr! Wir sollen etwas bauen, das wir noch nie zu Gesicht bekommen haben? Wir sind völlig ratlos!“

Der Zimmermann stellte seinen Kelch erleichtert wieder ab.

Ich habe schon einmal Belagerungstürme im Einsatz erlebt, bei der Belagerung von Gran. Sonderlich anspruchsvoll dünkte mich der Bauplan nicht. Ich will euch Auskunft gegen geben, soviel ich vermag.“ Er legte das Pergament vor den Dombaumeister hin, schob auch hilfsbereit dessen Weinkelch zu Seite, und, damit wirklich Platz genug war, den des Zimmermanns. Er hätte gar noch den Federkiel in die Tinte getaucht, wenn nicht zuvor der Anstand dem Dombaumeister zu flinkem Arbeitseifer verholfen hätte.

„Schildert mir alles, Herr, ich tue, was ich kann.“

Hagen beschrieb die Türme, und der Dombaumeister ließ die Feder übers Pergament fliegen, zeichnete mit raschen Strichen ein Bild nach Hagens Worten und kritzelte an den Rand wichtige Erkenntnisse. Auch der Zimmermann legte nun seine Scheu ab, beugte sich gebannt übers Pergament und steuerte ein paar Einwürfe bei. Bald gerieten sie in Fahrt, übernahmen den Gesprächsverlauf und stellten allerlei Fragen, die Hagen so gut es ging zu beantworten suchte. Als ihre Fragen immer fachmännischer wurden, von Dingen handelten, die seinem Laienauge nie aufgefallen waren, dann sogar Begriffe beinhalteten, die er noch nie gehört hatte, schlug er leicht die Hände zusammen und sagte: „Damit müsst ihr euch begnügen; bedenkt, dass ich ein Mann des Schwerts und der Reichsführung bin, nicht aber der Baukunst. – Also, könntet ihr mir etwas Derartiges bauen?“

„Es wäre äußerst schwierig, mit dieser kargen Grundlage, und bräuchte einige Zeit zur genauen Planung.“

„‚Schwierig‘ hör ich lieber als ‚unmöglich‘. Dann ist es ausgemacht, ihr baut mir einen solchen Turm, und, findet er meinen Beifall, werdet ihr mir bei Bedarf vor Feindesburgen weitere bauen dürfen. Was Geld betrifft“, er hob zwei Beutel vom Boden auf, „das müsste Anzahlung genug sein, und auch euer Stillschweigen abdecken. Die anderen Fürsten brauchen meine Pläne nicht zu kennen. Falls einer sich ebenfalls einen Turm bauen will, soll er seine eigenen Fachleute finden.“

Der Dombaumeister machte ein argwöhnisches Gesicht. Fürchtete er, dass Hagen Böses gegen seinen König vorhatte?

„Ich will mit allen Nachbarn im Frieden leben“, sagte Hagen, „doch ist es klug, wenn man statt auf die Aufrichtigkeit der Leute auf die eigene Wehrhaftigkeit baut. – Sollte euch der König nach dem Fortgang der Arbeit fragen, dürft ihr ihm jederzeit Auskunft geben, denn ich tue stets nur, was er gutheißt.“

Mit dieser Aufgabe versehen, schickte er beide wieder fort. Nun blieb noch einer zu empfangen, und wer das war, wusste Hagen selber nicht. Der Wahnsinn seines Vorgängers hatte dem herzoglichen Vermögen eine arge Wunde geschlagen: In blindwütigem Hass auf den Sohn, der keiner war, sondern nur ein Bastard, hatte der alte Herzog seine Schatzkammer leergeräumt und den kostbaren Inhalt im ganzen Land verstreut; in Abgründe geschüttet, in Quellen geworfen, in Seen versenkt. Nur einen Teil hatte man wieder gefunden, obwohl die Suche noch bis letzte Woche fortgeführt worden war. Verfluchter Narr! Jedes Mal brodelte der Zorn wieder auf, wenn Hagen nur das Wort „Gold“ vernahm.

Früher war das Herzogtum mit Gold und Silber wohl gesegnet gewesen – dank der Raserei des Alten hatte es die Hälfte seines Reichtums verloren!

Als Hagen vom Ende der Suche erfahren hatte, in der Pfalz zu Worms, waren – zu seinem Glück – der König und die Königsmutter dabei. Der Bote hatte die Hiobsbotschaft stammelnd überbracht; der Zorn traf Hagen wie ein Schlag, doch statt ihn wie sonst mit Kraft zu füllen, saugte er alle Stärke heraus, bis er nur noch eine leere Hülle war, in der das Herz wie irrsinnig schlug. Die Königsmutter bemerkte seine Erschütterung und führte ihn rasch zum nächsten Stuhl, indem sie erklärte, nie eine schlimmere Blässe gesehen zu haben, nicht einmal bei den Verblichenen auf dem Totenbett.

Ihm war so schwindlig, dass er den Boten nur mit fahriger Geste hinausschicken konnte; anstatt zu wüten und zu toben, musste er sich an den Armlehnen festklammern und hoffen, dass er nicht zur Seite kippte. Gunther reichte ihm einen Becher Wein, überspielte ihm zuliebe die eigene Empörung, und versprach mit tapferer Zuversicht, dass in bestimmt schon fünf Jahren die Schatzkammern wieder gefüllt wären wie vordem. Wäre Hagen nicht von der Anwesenheit einer Dame gehindert gewesen, hätte er sich einem Schwall Flüchen hingegeben; so aber konnte er nur immer wieder den Kopf schütteln und matt raunen: „Die Hälfte, die Hälfte!“

„Ihr Männer wendet den Reichtum ohnehin nur für den Krieg auf“, sprach Frau Ute, „und wenn du in nächster Zeit vom blutigen Handel mit Tod und Sieg Abstand nimmst, wird dein Herzogtum nicht darben müssen.“

„Immerhin gehören dir nun die reichsten Fische des Reiches“, sagte Gunther, und schlug großmütig vor, Hagen sogleich die Einnahmen aus dem Wachsregal zu verpfänden, ihm gar ganz zu überlassen. Auch riet er ihm leise, da Hagen das Münzregal besaß, rasch alle Münzen einzuziehen, neue prägen zu lassen, schlechtern Werts natürlich, und den Gewinn der Schatzkammer einzuverleiben.

Letzteres wies Hagen von sich, und auf Ersteres musste er verzichten, da man ihn nur wieder Günstling heißen würde. Stattdessen bat er Gunther, ihm einen Mann zu empfehlen, der ihn in den leidigen Gelddingen leiten könnte und beraten. Sein König brauchte keinen Atemzug lang nachzudenken; ein triumphaler Glanz blitzte in seinen Augen, als er ihm versprach: „Da gibt es einen, ja, der geht mit dem Geld um wie du mit dem Schwert. Ich habe ihn selber schon des Öfteren zurate gezogen; bestens hat er sich bewährt. Den sende ich dir – aber du sollst ihn nicht hier empfangen, sondern fort von den rastlosen Mäulern der Leute.“

Jetzt würde er diesen Künstler des Geldes endlich zu Gesicht bekommen. Sein Knappe Friedrich kam herein und fragte, ob er den Mann hereingleiten solle. Ganz große Augen machte er dabei; es schien gerade, als müsse der Gast drei Arme haben oder Ähnliches.

„Nur zu.“

Wie staunte Hagen, als der Mann eintrat! Seine Haut hatte einen dunklen Ton, vergleichbar dem der Byzantiner; die Haare waren von einem Schwarz, wie man es selten sah im Rheinland – am auffälligsten aber der gelbe Hut, und die übrige Tracht.

Es war ein Jude.

Tief verneigte er sich, und blieb auch nach dem Aufrichten bescheiden am Zimmerende stehen. – Nun, mit Geld kannte sich der zweifellos aus.

„Nimm Platz“, sagte Hagen. „Dein Name war?“

„Gerson, edler Herzog. Eigentlich hätte mein Vater Isaak zu Euch kommen sollen, nach ihm hatte der König verlangt, doch da er leider erkrankt ist – die Plagen des Alters! – schickte er stattdessen mich. Ich werde mein Bestes tun, Euch zu beraten, als spräche seine Stimme mit meiner Zunge.“

Der Sohn war nicht mehr jung, bestimmt schon fünfunddreißig; er hatte gewiss Zeit genug gehabt, sich im Geschäft des Vaters Sachverstand und Geschicklichkeit anzueignen.

„Mit was genau handelt dein Vater?“

„Mit allem, Herr: Spezereien, Stoffe, Pferde, Felle. Wir sind die erfolgreichste Händlerfamilie der Wormser Juden. Unsere Leute fahren hinauf bis zum bernsteinschweren Norden, bis zu den Tuchwebern der Franzosen, sie bringen aus Sizilien weißes Elfenbein und aus Spanien rotes Leder; nach Byzanz bringen wir Handschuhe aus Paris, und kehren mit Glas und Seide wieder zurück.“

Gut, gut. Sein König wusste, wen man fragen musste.

Unvermittelt blickte dieser Gerson ihm direkt in die Augen und sagte: „Die Juden des Landes sind Euch sehr dankbar, dass Ihr damals die Händler aus Worms gerettet habt.“

Die Hunnen hatten sie überfallen, blut- und beutegierig, und hatten viele der armen Leute erschlagen. Nur das Eingreifen der Geiseln hatte die übrigen vor ihrem Verhängnis bewahrt.

„Waren es Händler deines Vaters? Warst du auch dabei? Ich glaube nicht, dich gesehen zu haben.“

„Nein, gütiger Herr, wir führen die Geschäfte stets von Worms aus. Es waren die Wagen unseres Vetters, in unserm Auftrag unterwegs. Als er heimkam mit der traurigen Botschaft von neun geliebten Toten, brachte er auch die Kunde von dem burgundischen Helden mit, der ohne Furcht wie ein zweiter David den Goliath der Hunnenwut besiegte. Seitdem sprach nie mehr ein Wormser Jude, dass der jährliche Tribut hoch sei.“

Hagen musste sich eingestehen, dass ihm die Anerkennung schmeichelte. Damit er nicht den falschen Eindruck hervorriefe, er sei umgänglich und Süßholzreden zugetan, ging er freilich nicht weiter darauf ein. „Ich hab dich herbestellt, weil ich deinen Rat wünsche. Wie allgemein bekannt, stürzte mein Vater am Ende seines Lebens in den Rachen der Geistesschwäche und hat, man weiß nicht warum, sein ganzes Gold verschleudert im bittersten Wortsinn. Was nicht die Elstern auflasen, das ruht wohl auf ewig im Moosbett dunkler Wälder oder am Grunde der Flüsse.“

Der Jude hörte mit einer so tiefen Anteilnahme zu, dass sich sein Gesicht wie im Schmerz verzog.

„Nun muss ich mich mühen, das Vermögen wiederherzustellen. Sag mir, wie gehe ich dabei vor?“

Der Jude antwortete unverzüglich: „Ihr könntet die Abgaben Eurer Bauern von Naturalien in Geld umwandeln. Der König und einige Fürsten in fremden Ländern haben dies schon teilweise eingeführt, und es hat stets ihre Einnahmen gesteigert. Die Bauern ziehen diese Abgaben den echten vor; verständlich, denn wer statt einer Kuh eine Handvoll Münzen abgibt, behält die Kuh und hat im nächsten Jahr noch Milch und Kalb.“

„Gut, ich will’s erwägen. Und weiters?“

„Senkt die Zölle an der Krähenfels-Brücke. Sie sind seit Jahren zu hoch – nicht Eure Entscheidung war’s, ich weiß – und lenken die Händlerzüge stattdessen in die Grafschaft Eures Nachbarn Albrecht von Herstein, obwohl’s ein Umweg ist. Daran merkt Ihr, wie ungeliebt die Zölle sind.“

„Wohlan, ich werde darüber nachdenken.“ Eine gewisse Ungeduld überkam ihn plötzlich und Ärger; Ärger, dass er sich Dinge anhören musste, die er nicht wusste. – Einfältiger Stolz! Ruhe jetzt! Es lag keine Schande darin, den Verstand kundiger Leute zu nutzen zum eigenen Vorteil; außerdem sollte er sich ein Beispiel an seinem König nehmen: der hörte mit Langmut jeden Tag Belehrungen an.

Der Jude brachte noch weitere Vorschläge an, so viele, dass Hagen ihm schließlich auftrug, eine Liste zu erstellen, um sie an seine Ministerialen weiterzugeben. Er wollte den Juden schon fortschicken mit einer wohl bemessenen Dankesgabe, als der bescheiden anfügte: „Und Ihr könntet es den Juden erlauben, wieder in Eurem Herzogtum zu wohnen. Euer Vater hat die Leute meines Volkes vor dreißig Jahren ja vertreiben lassen. Ich kenne mindestens ein Dutzend, die sich mit ihren Geschäften nur allzu gern in Tronje niederließen. Es würde Eurer Schatzkammer zuträglich sein.“

Doch würde man Hagen dann nicht auch vorwerfen, sich zu verbrüdern mit dem Volk, das, in alle Winde versprengt, trotz der alljährlichen Karfreitagsfürbitte den Messias nicht erkennen wollte? Denen, die sich des Rechts auf Zins erfreuten und sich, so hieß es, allzu oft am Wucher ergötzten? So würden die Leute reden. – Ja denn, das war die Belebung des Handels ihm wert. Sollten die anderen nur spotten; später müssten sie ihn beneiden. Außerdem hatte Gerd ihn gelehrt, dass einst eine kleine Anzahl Juden um die Schonung Christi gebeten hatte; das „Kreuziget ihn!“ schallte nicht aus ihren Kehlen. Ihre Nachfahren machten sich später auf und ließen sich nieder in der schönsten Stadt. Darum waren Wormser Juden fromme Juden.

Dem scharfsinnigen Gerson verriet Hagen natürlich noch nichts von seinem Entschluss; er beschied ihn nur mit dem bewährten: „Ich will’s erwägen.“

Neuer Abschnitt ab hier:

Eine Woche später begann Hagen seinen Umritt. Als vornehmes Gefolge würden ihn einige Grafen und Dankwart begleiten. Gunther verabschiedete ihn auf dem Hof der Pfalz. Seine Erleichterung, alle wichtigen Entscheidungen vertagen zu können bis zu Hagens Rückkehr, war ihnen beiden offenbar. Die anderen Pflichten des Königtums, die Ausübung von Freigebigkeit und Liebenswürdigkeit, würde er auch ohne den ersten Vasallen aufs Beste erfüllen.

„Gute Reise, Herzog, und nimm froh die Ehren deiner Untertanen entgegen. Sie könnten keinen klügeren Herrn besitzen.“

„Danke, mein König. Und sollte doch ein neues Unheil herannahen, verzweifle nicht, schicke unverzüglich einen Boten; ich komme sofort, und werd einen Tag früher da sein, als du vermuten wirst.“

Gunther sah zum Dom hinüber. „Ich bete jeden Tag, dass nichts geschieht. Burgund hat endlich Ruhe verdient.“

Sie umarmten sich. Schwungvoll sprang Hagen in den Sattel; sein Gefolge ebenso. Er grüßte einmal in die Runde, und sprengte dann zur Pfalz hinaus.

An den ersten Tagen der Reise gab es nichts Neues zu sehen: Dörfer, Klöster und Burgen waren ihm bekannt, und den Bewohnern war auch er kein neuer Anblick. Die Bauern auf dem Feld rannten herbei, wann immer sie den herrschaftlichen Zug erblickten, und trachteten mit aufgeregten Verbeugungen ihre Hingabe und Treue zu beweisen. Mit der einen oder andern Münze entlohnte er sie dafür. In den Klöstern bot man ihnen süßen Wein, versprach fromm und fleißig zu beten für all seine Unternehmungen, und bedauerte das Los seines Vorgängers. Zu jeder Burg ritt man hinauf und ließ sich gastlich empfangen. Die Herren der Burgen hatte Hagen am Tag seiner Herzogserhebung belehnt und ihren Treueid entgegengenommen; viele der Gattinnen, Söhne und Töchter traf er nun zum ersten Mal. Es war die immergleiche Mühsal: angestarrt zu werden wegen seiner blassen Haut, den Schauder der Leute geflissentlich zu missachten, und dann das umständliche Begrüßen mit Umarmen und Küssen. Ab und an kam es gar vor, dass sich ein Bengel oder Gör vor lauter Angst hinter die Röcke seiner Amme floh; das beantwortete er mit nachsichtigem Lächeln, aber die Eltern versetzte es stets in peinlichste Verlegenheit. Meist war es Dankwart, der dann mit ein paar heiteren Worten die Stimmung wieder aufhellte.

Ja, Dankwart erwies sich als vorzüglicher Reisegefährte, und Hagen müsste es sehr bereuen, wenn er ihn nicht mitgenommen hätte. Bereitwillig zeigte er ihm alle Furten, Mühlen und Waffenschmieden, wies ihn auf jeden umstrittenen Streifen Land hin, zeigte ihm die Besitzungen reichsimmediater Ritter und des Bischofs von Worms, wusste von jeder Pfründe, wem sie gehörte, und kannte, so schien es, jeden Handwerker und reichen Bauern im Land.

Am unverzichtbarsten erwies er sich jedoch im Kreise anderer Adliger, denn auf jeder Burg konnte er nicht schweigen, sondern erzählte gleich mit Seligkeit, dass seine Frau guter Hoffnung sei. Dabei strahlte er wie ein Kind über ein neues Spielzeug, und, bei aller gebotenen christlichen Anteilnahme – der Herrgott freute sich schließlich über jedes Kind – das war doch mehr als übertrieben. Selbst seinem König, wenn dessen künftige Gemahlin eines Tages ein Kind erwartete, würde Hagen mehr Mäßigung anraten: Es könnte ja auch nur ein Mädchen sein.

Dankwart aber übte sich ungezügelt in geradezu weibischer Entzückung. Während er plapperte über sein wachsendes Glücks, vom Seufzen der Frauen noch angespornt, stand Hagen reglos daneben und warf ihm nur einen langen Seitenblick zu. Besser könnte man den Grafen und Rittern nicht beweisen, welcher der beiden Tronje-Brüder für die Herzogswürde geeignet war: Hier der Ältere, trunken von einer Kunde, an der sich sonst nur Frauen berauschten, und daneben der jüngere, der Hunnensieger, klaren Verstands und kühlen Herzens.

Danke, Bruder.

Ein paar der Grafen äußerten den Wunsch, mit ihm zu fechten – da stellte er sich gerne. Es ging auch nicht um Leben oder Tod – Gunther könnte ihn also nicht tadeln! Großzügig schritt er auch ein drittes oder viertes Mal zum Kampf, doch keine einzige Niederlage besudelte seinen Ruf. Versöhnlich reichte er den Geschlagenen die Hand, und linderte die Schmerzen ihres Stolzes, indem er sagte: „Ihr habt es mir arg schwer gemacht!“ Die Eingebildeten tröstete das sehr, und die guten Kämpfer hatten nun auch noch seine Bescheidenheit zu bewundern.

Wo immer er hinkam, ehrte man ihn und sein Gefolge mit Musik, Festmählern und flatternden Fahnen. Ein halbes Dutzend Vasallen planten wohl, ihm ihre Tochter als Braut aufzuschwatzen; mehr als einmal fand er ein solches junges Mädchen beim Festmahl zu seiner Rechten sitzen und unter langen Wimpern zu ihm herüberspähen, während der Vater von links all ihre vermeintlichen Vorzüge aufzählte.

Hagen ging überhaupt nicht darauf ein und sprach stattdessen von Schlachten.

Nach fünf Tagen erreichten sie die nördlichen Gebiete des Herzogtums; hier war er nie zuvor gewesen. Das unausweichliche Staunen der Leute nahm leider zu, man starrte ihn an wie einen scheußlichen Fremden. Eine Schar junger Bauerntöchter, eben herangesprungen, um Blumen zu werfen, stob unter Kreischen wieder davon, und so mancher Dorfpriester bekreuzigte sich entsetzt, ehe er das Grußwort an Hagen richtete.

Furcht und Abscheu bekümmerten ihn nicht, nein – wohl aber, dass der Schrecken der törichten Leute bei seinem Gefolge bisweilen Belustigung auslöste.

Eine Weile lang ritt er schweigend vor sich hin, grübelte nach, wie er die anderen rügen könnte, ohne dabei empfindlich zu wirken, und gab nicht mehr Acht auf seine Umgebung.

Erst als Dankwart scharf seinen Namen rief, gab er das Nachdenken bedauernd auf und wandte sich halb um. „Was ist denn?“

„Da hält ein Reiter auf uns zu!“

Dort hinten, ja, der Staub der Straße kündigte ihn an. Er kam von Süden, im schnellsten Galopp.

Hagen brachte sein Pferd zum Stehen und rief der Vorhut denselben Befehl zu. „Wir warten auf ihn“, sagte er seinen Männern, „falls es ein Bote aus Worms ist.“

Böse Vorahnungen erhoben ihr hässliches Haupt. Möge der Herrgott seinen König beschützt haben! Totenwache spürte seine Unruhe und stampfte mit dem Huf auf.

Weil das Warten ihm schließlich zu lange ging, trabte Hagen dem Reiter entgegen. Wortlos folgten seine Männer.

„Werd doch nicht blass, raunte ihm Dankwart zu, es wird schon nicht –“

Hagen brachte ihn mit einer harschen Geste zum Schweigen.

Der Mann erreichte ihn endlich. Adalbert von Starenheim war es, einer des besten Reiter des Reiches. Mit seiner Beherrschung von Pferd und Ross hätte er sich in Etzels Heer keine Schande gemacht. Nun waren Hengst und Adalbert schweißbedeckt, erschöpft vom schweren Ritt.

Dreimal wollte der Kerl ansetzen, doch vor Japsen und Röcheln versagte ihm die Stimme.

„Zum Teufel, fass dich endlich!“, fuhr Hagen ihn an.

Der Kerl griff in die Satteltasche und zog ein zusammengefaltetes Schreiben heraus. Hagen entriss es ihm. Einen Augenblick lang starrte er auf das Siegel: Es war mit dem Ring seines Herrn gemacht, aber derart schlecht auf das Wachs gesetzt worden, dass die Hälfte des thronenden Herrscherbildes nicht eingedrückt war.

Fahrig brach er es auf und entfaltete das Pergament. Erleichterung, dass es Gunthers Schrift war – jedoch kaum leserlich und von Tintenflecken übersät. Zweimal schien sogar die Feder abgebrochen zu sein.

Er überflog die Zeilen. Gunther hatte mehrmals die Sprache gewechselt, damit der Brief, falls abgefangen, von falschen Köpfen nicht gedeutet werden konnte. Im Latein waren ihm Fehler unterlaufen – nichts bezeugte deutlicher seinen Zustand beim Verfassen.

Oh, verdammt. – Der Herr möge ihm und seinem Pferd Kraft verleihen.

Hagen faltete das Schreiben wieder zusammen und steckte es ein. Seine Gefolgsleute starrten ihn mit atemloser Besorgnis an. „Wir kehren um, Männer“, sagte er hart. „Ich reite voraus. Ihr kommt nach, so schnell Ihr könnt.“

Anmerkungen:

Anmerkungen:

Dieses Kapitel enthält eine der schwierigsten Szenen des ganzen Buchprojekts. Weiter unten wird ausgeführt, warum.

Der silberne Schild: In der Thidrekssaga verwendet Hagen einen silbernen Schild, um die Feinde zu blenden. Der Erzähler merkt an, dass diese List in späteren Zeiten verboten worden sei – dementsprechend wirksam muss sie gewesen sein. Jetzt hat er auch im Worms-Buch einen silbernen Schild! Ist er nicht cool?!

Belagerungstürme wurden im Hochmittelalter nördlich der Alpen nicht verwendet, in Byzanz und Italien sind sie jedoch eingesetzt worden. Als Heinrich der Löwe auf dem Italienzug Zeuge ihrer Wirksamkeit wurde, ließ er sich im Reich derartige Bauwerke für seine eigenen Kämpfe herstellen. (Hinweis auf Buch über Albrecht den Bären, Seite einfügen)

Ein grober Bauplan wird auf einem Pergament skizziert: Lange habe ich überlegt, welches mittelalterliche Schreibmedium für eine solche Aufgabe geeignet wäre. Zum einen gab es Wachstäfelchen aus Holz oder Elfenbein, zum anderen Pergament. Der Größe der Wachstäfelchen waren gewiss Grenzen gesetzt; ich kann mir nicht vorstellen, dass sie für die Niederschrift erster Überlegungen zu einem komplexen Bauwerk geeignet waren.

Da Pergamente größer sein konnten, schließlich war die Haut auch bei den Tieren das größte Organ, halte ich es für grundsätzlich möglich, hier Pergament zu verwenden. Zwar ist dieser Beschreibstoff teuer, doch der Hof eines mittelalterlichen Herzogs sollte diese Ausgabe verkraften können. Außerdem kann bei Pergament die Schrift auch wieder mit einem Messer vorsichtig abgekratzt und neu beschrieben werden, was für die Niederschrift eines Entwurfs, und sei er architektonischer Natur, womöglich praktisch ist. Naja, vielleicht sind meine Überlegungen auch falsch, aber ihr seht, dass ich mir Gedanken gemacht habe.

„dass ich ein Mann des Schwerts und der Reichsführung bin, nicht aber der Baukunst“: Dieser Satz bedarf eigentlich keiner Erläuterung – aber ich habe beim Schreiben trotzdem an Bismarck gedacht, der von sich sagte, dass er von moderner Technik nichts verstehe. (Titel des Bismarck-Bildbands einfügen)

„doch statt ihn wie sonst mit Kraft zu füllen, saugte er alle Stärke heraus, bis er nur noch eine leere Hülle war, in der das Herz wie irrsinnig schlug“: Die Beschreibung des Zorns bleibt hinter dem Erlebnis weit zurück. Ich ließ mich hierbei inspirieren von meinen eigenen Wutanfällen, die ich in einer der schlimmsten Phasen meiner Depression mindestens einmal pro Tag erlebte. Das ist keine Explosion mehr, sondern eine Implosion; und dass das nicht gesundheitsfördernd ist, spürt man ganz genau.

Gunther rät ihm, „rasch alle Münzen einzuziehen, neue prägen zu lassen, schlechtern Werts natürlich, und den Gewinn der Schatzkammer einzuverleiben“: Nach langer Abwägung kam ich zum Schluss, dass die Hauptfiguren in meiner Geschichte keine Meister im Umgang mit Geld sein sollen. Das Epos selbst bietet mir eine mögliche Basis dafür. Nicht ausschlaggebend für meine Schlussfolgerung waren die teuren Feste, die Gunther im Epos ständig ausrichtet, denn diese sind als Machtdemonstration unverzichtbar für einen mittelalterlichen König, von dem erwartet wird, dass er die Tugend der milte, die Freigebigkeit, zelebriert. Dass die Burgunden jedoch Brünhilds Schatz von Dankwart verschleudern lassen und Hagen Kriemhilds Erbe, den Nibelungenhort, im Rhein versenkt, ist zwar machtpolitisch sinnvoll, um die Frauen fortan daran zu hindern, Anhänger um sich scharen, ändert aber nichts an der Tatsache, dass bedeutende finanzielle Mittel einfach verloren sind. Hätten sie die Mittel nicht auch anderweitig verwenden können, um die eigene Machtbasis zu stärken? (Wobei die Versenkung des Hortes natürlich ein kraftvolles Bild und daher innerhalb der Geschichte richtige Lösung ist! Eine Frage aus der realen Welt: „Warum nutzen die das Geld nicht?“ an die fiktiven Akteure zu richten, wäre als Textanalyse gewiss falsch, aber als Grundlage für ihre Charakterisierung in einer Fancfiction-Story wohl gerade noch erlaubt.) Der Merowingerkönig Chilperich I. zum Beispiel, Halbbruder von Guntram und Sigibert, hatte keine Hemmungen, sich des Schatzes der Dynastie zu bemächtigen. Preußens Ministerpräsident Otto von Bismarck verwendete nach der Annexion des Königreichs Hannover das nicht unbedeutende Vermögen der Welfendynastie, um regierungsfreundliche Zeitungsartikel zu lancieren (Reptilienfonds). Also kam ich zum Schluss, dass die Wormser in meiner Interpretation nicht souverän im Umgang mit Geld sein sollen. (Einer von beiden ist sowieso viel zu „overpowered“.) Was Gunther seinem Lehnsmann hier vorschlägt, zeugt daher nicht von pekuniärer Weitsicht: Eine künstlich herbeigeführte Abwertung des Gelds ist selbstgemachte Inflation.

Der Jude Gerson: Sein Name ist inspiriert von Gerson (später von) Bleichröder, dem jüdischen Bankier von Otto von Bismarck. Auch Bismarck hatte im Umgang mit Geld seine Schwierigkeiten; vor allem in seinen jungen Jahren floss mehr ab, als hereinkam. Dank Bleichröders kluger Anleitung wurde er im Laufe der Jahre schuldenfrei. Bleichröder legte übrigens eine Steinsammlung an, die Steine von den preußischen Schlachtfeldern der Einigungskriege enthielt. Wilhelm I. kam einmal zu Besuch und hat sich die Steinsammlung angeschaut.

„Unsere Leute fahren hinauf bis zum bernsteinschweren Norden“: Händler verwendeten zum Transport keine eigenen Wagen, sondern ließen sich und die Ware gegen eine Entlohnung etappenweise von den Bauern der Region transportieren. Ist es nicht faszinierend, dass dadurch Angehörige verschiedener Religionen und Gesellschaftsschichten in Kontakt kamen?

„Es waren die Wagen unseres Vetters, in unserm Auftrag unterwegs“: Das widerspricht sich mit dem oben genannten; als diese Händler in Band 2 auftraten, wusste ich noch nicht, dass Händler meist auf Fahrzeuge von Anwohnern auswichen. Da die Juden in Band 2 jedoch eine lange Strecke durch eine wenig besiedelte Steppenregion reisen mussten, ist es möglich, dass sie kurz vorher eigens Wagen kauften. Noch sinnvoller wäre es gewesen, von Packpferden zu schreiben … Vielleicht wird das später angepasst.

„Der Jude hörte mit einer so tiefen Anteilnahme zu, dass sich sein Gesicht wie im Schmerz verzog“: Das ist einer der Sätze, der natürlich negativ ausgelegt werden könnte. Dem jüdischen Händler sei Geld so wichtig, dass ihm selbst der Verlust von fremdem Geld geradezu physischen Schmerz bereitet. – Ist das noch ein vergnügter Scherz, oder bereits das gedankenlose Nachplappern von Klischees, die, im Verein mit vielen anderen Faktoren, zum größten Verbrechen der Weltgeschichte führten? Andererseits ist die Verschleuderung von Geld wirklich eine dumme Sache, und ich denke, die meisten meiner Bekannten hätten ebenfalls eine mitfühlende bis schockierte Reaktion, wenn ein echter Mensch aus dem echten Leben mutwillig viel Geld zerstörte. Ich hoffe, man sieht, dass ich lange darüber nachgedacht habe. Ich kam zögerlich zum Ergebnis, dass der Satz zwar ein Klischee enthält, aber sobald man darüber nachdenkt, ist es eine universelle Reaktion auf den unverantwortlichen Umgang mit Geld.

„Senkt die Zölle an der Krähenfels-Brücke“: Zollsenkungen waren ein machtvolles Werkzeug im Mittelalter (und später auch noch). Mit der Befreiung von den Zöllen an den königlichen Zollstätten belohnte Heinrich IV. 1074 die Wormser „Juden und die anderen Bewohner von Worms“, weil sie ihm als einzige in der Zeit des Sachsenaufstands treu zur Seite gestanden hatten. – Die Zuerstnennung der Juden fand ich immer schon bemerkenswert. (Siehe „Worms. Eine Spurensuche“ von Ralph Häussler, S. 54–55). Die Brücke jedoch ist frei erfunden. Irgendwann muss die Recherchearbeit auch einmal aufhören, sonst werde ich nie fertig!

„eine Liste zu erstellen“: Das wirkt ja geradezu bürokratisch. Allerdings hat schon der Burgunderkönig Gundobad (gestorben 516) seinen Bischof und Berater in theologischen Fragen, Avitus von Vienne, in den erhaltenen Briefen gebeten, ihm eine (sogar kommentierte) Liste zu erstellen.

„Würde man ihm dann nicht auch vorwerfen, sich zu verbrüdern mit dem Volk, das, in alle Winde versprengt, trotz der alljährlichen Karfreitagsfürbitte den Messias nicht erkennen wollte? Denen, die sich des Rechts auf Zins erfreuten und sich, so hieß es, allzu oft am Wucher ergötzten?“: Das ist die wohl schwierigste Stelle des Buches. Der Antisemitismus in der mittelalterlichen Welt und in der katholischen Kirche ist allgemein bekannt: Dem Laien fallen als erstes Kreuzzugspogrome (auch in Worms), Ritualmordanschuldigungen und Vorwürfe der Brunnenvergiftung ein. Auch die vorgeschriebene Tracht war ein Mittel der Unterdrückung. Die Karfreitagsfürbitte in der katholischen Kirche bat Gott, dass er die Juden der „Verblendung“ entreiße und zur Erkenntnis des Messias führe. Sie war (in ihrer antijudaistischen tridentinischen Form) noch Jahre nach der Shoa in Gebrauch und wurde dann langsam verändert. – Nun ist diese Geschichte, die ich schreibe, sehr trivial und in den Augen der Welt völlig belanglos – trotzdem finde ich: Den mittelalterlichen und kirchlichen Antisemitismus nicht zu erwähnen, hieße, das Leid zahlloser Menschen auszublenden. Ich empfinde es als Verantwortung, ihn zu thematisieren. Infolgedessen stellte sich mir die Frage: Wie füge ich den Antisemitismus der Zeit ein, ohne dass es zur mittelalterlichen Hassrede wird? Und wie lasse ich die Hauptfigur reagieren, die, auch wenn sie eine eigene Meinung hat, in ihrer Zeit verhaftet sein soll? Ich habe es wie folgt gelöst, und hoffe, es ist mir ordentlich gelungen:

Hagen erwähnt in seinem Monolog die Vorwürfe der Zeitgenossen, scheint sie jedoch teilweise in Frage zu stellen durch den Einschub „so hieß es“. Dadurch zeigt er sich als weniger empfänglich für hetzerische Parolen. Er beschließt, trotz der Kritik der Christen Gersons Rat anzunehmen und den Juden die Rückkehr zu erlauben. Allerdings ist hier nicht menschliches Mitgefühl, sondern reines Kalkül am Werk, als Beweis, dass auch Hagen als Produkt seiner Zeit Antisemitismus verinnerlicht hat: Die „gute Tat“ geschieht nur aus Eigennutz. (Wobei er ansonsten auch nicht als Menschenfreund angelegt ist und so gut wie jeden als Werkzeug sieht.) Die Geschichte von den „frommen Wormser Juden“, die sich gegen die Kreuzigung Jesu aussprachen, kursierte wirklich. Offenbar steht Hagen den Wormser Juden positiv gegenüber; doch selbst dies ist verdeckter Antisemitismus: Eine Minderheit zu loben, dass sie sich über die angebliche Minderwertigkeit (oder „Erbschuld“) ihrer Gruppe erhoben habe, ist immer noch diskriminierend. – Das würde ein Mensch des Mittelalters jedoch kaum begreifen; selbst manche heutigen alten weißen Männer verstehen das nicht immer. Also ist die fürs christliche Mittelalter typische Intoleranz gegenüber Juden bei ihm noch immer vorhanden, wenngleich in einer weniger aggressiven Form. Hätte ich ihn einfach zu einem weltoffenen Kämpfer gegen Antisemitismus gemacht, hätte dies die Schwere des Problems falsch dargestellt. Systemische Unterdrückung durchtränkt die ganze Gesellschaft und alle Interaktionen. Ich habe mich für eine nuancierte Darstellung entschieden, wobei es beabsichtigt ist, dass die Leserinnen klarer sehen als die Figur und eben auch seine Sympathie für die Wormser Juden als „unbewusstes Vorurteil/unconscious bias“ erkennen.

Ich könnte auch noch über die Darstellung der Figur des Hagen in verschiedenen Wagner-Inszenierungen sprechen, bei denen man ihm „jüdische“ Züge verlieh, doch das würde zu weit führen. Auf jeden Fall habe ich mir Gedanken gemacht.

 – Ich habe außerdem vor, Gerson noch öfter auftreten zu lassen, wobei zwischen ihm und Hagen ein respektvolles Arbeitsverhältnis entsteht.

„Ihr habt es mir arg schwer gemacht!“: Ich hatte früher einen Bekannten, der an Selbstverteidigungskursen teilnahm. Einmal erzählte er mir ganz begeistert, er sei gegen einen Meister in seiner Disziplin angetreten, völlig informell, bei einer normalen Trainingsstunde. Er habe verloren, doch der Meister habe ihm gesagt: „Es war mein härtester Kampf!“ Ich war so freundlich und verzichtete darauf, anzumerken, dass der Meister dieses Lob bestimmt an jeden verteilt …

„Dabei strahlte er wie ein Kind über ein neues Spielzeug, und, bei aller gebotenen christlichen Anteilnahme – der Herrgott freute sich schließlich über jedes Kind – das war doch mehr als übertrieben. Selbst seinem König, wenn dessen künftige Gemahlin eines Tages ein Kind erwartete, würde Hagen mehr Mäßigung anraten: Es könnte ja auch nur ein Mädchen sein“: Diesen Satz finde ich zugegebenermaßen ziemlich gelungen. Erst denkt man, die Pointe sei das Beckenbauer-Zitat („Der liebe Gott freut sich über jedes Kind“, gesagt von Franz Beckenbauer, das war ein Fußballer und Funktionär und irgendwas mit Bayern München und Katar), bis die eigentliche Pointe kommt: das Patriarchat! Auch wenn es lustig scheint, steht natürlich Wahrheit dahinter: In einem System, das Männern mehr Wert zuspricht als Frauen, wird die Geburt weiblicher Kinder zur Enttäuschung. Bekannte und weniger bekannte Beispiele: Afghanische Männern kondolieren anderen Männern zur Geburt einer Tochter (siehe das Buch von Zarifa Ghafari), die Pakistani werfen einem Jungen Geld und Süßigkeiten in die Wiege, einem Mädchen hingegen nicht (siehe Buch von Malala), in Nordindien gilt: „Mögest du hundert Söhne haben“ als Segenswunsch für Frauen, Heinrich VIII. von England war besonders vergrämt über den Mangel an (körperlich fitten, legitimen Söhnen) und die alten Römer setzten weibliche Säuglinge sogar vor der Stadt aus. Darum ist es im Rahmen dieses ungerechten Systems nicht verwunderlich, dass Hagens Sorge darauf gerichtet ist, seinem König die Enttäuschung zu ersparen. Auch dies ist ein weiteres Element des Patriarchats: Mitgefühl, Empathie und Sorge empfinden Männer nur für Männer. Es ist fast schon rührend, dass Hagen, von mir als eiskalt konzipiert, seinen König geradezu fürsorglich vor einem Problem schützen will, das vom Patriarchat künstlich geschaffen wurde. Also, ich finde den Satz böse, aber lustig. Frauen wissen selber am besten, wie sie die Welt erleben.

Jetzt ist das Kapitel aus.

Welche Bücher ich 2024 gelesen habe

Bereits 2023 habe ich jedes gelesene Buch in meinen Wh*atsapp-Status gestellt, meist mit einer Mini-Zusammenfassung (ein Satz). Ich selber finde die Status-Möglichkeit bei Wh*tsapp voll toll, denn das fühlt sich an, als würde man die anderen ausspionieren, und zugleich braucht man kein schlechtes Gewissen zu haben, weil sie ja damit einverstanden sind!

Ich habe nicht viele Wh*atsapp-Kontakte, da ich wegen meiner introvierten Veranlagung und einer 5-jährigen Depression den Kontakt zu praktisch allen nicht mit mir verwandten Menschen verloren habe.

Und wenn einen ein Status nervt, kann man praktischerweise weiterspringen oder braucht ihn gar nicht erst anzuschauen.

Doch dann bekam ich nach Weihnachten die Rückmeldung, dass sich manche anderen „ungebildet“ fühlen, wenn ich dauernd Bücher poste und sie selber kein einziges gelesen haben. Es gab zwar auch Leute, die mir sagten, sie fänden es interessant und lustig, aber eine negative Kritik wiegt eben schwerer, das ist ein Naturgesetz.

Nun ist es nicht so, dass meine Verwandten im Elend leben. Urlaubsreisen, Feste, Vereine, interessante Hobbys, Fernsehen: Damit füllen sie ihre Freizeit. Dass sie dann eher weniger zum Lesen kommen, ist doch kein Vorwurf von mir! Jeder hat seine eigenen Prioritäten und verwendet seine Zeit den Prioritäten gemäß. Ich konnte wochenlang fast nur im Bett liegen, da mich sogar Treppensteigen erschöpfte. Lesen ging noch. Und da ich nicht auf Feste gehe, nicht in Vereinen bin, nicht verreise und auch sonst keine Hobbys habe, blieb mir Zeit für Lektüre.
Doch offenbar ist das arrogant und gemein.
Wenn mich nächstes Mal jemand von den „Gekränkten“ fragt, ob ich noch lese, sage ich aus Rücksicht auf ihr Ego: „Nein, ich schaue nur noch Filme“.

Darum kommt nun die gemeine, böse Auflistung. Wer es nicht ertragen kann und sich davon angegriffen fühlt, soll einfach wegklicken. Geht zu Reddit oder so. Oder stellt euch vor, das seien alles nur Comics.

  • The Prince and the Plunder. How Britain took one small boy and hundreds of treasures from Ethiopia
  • Frauen auf dem Zarenthron
  • Die Windsors. Glanz und Tragik einer fast normalen Familie
  • Deutsch sein und schwarz dazu. Theodor Michael
  • First People: The Lost History of the Khoisan
  • Frauenwunderland. Die Erfolgsgeschichte von Ruanda
  • Pakistan – Land der Extreme
  • I am Malala
  • Caritas Pirckheimer. Äbtissin und Humanistin
  • Die Samurai (C. H. Beck Wissen)
  • Churchill von Sebastian Haffner
  • Geschichte des Koreakriegs von Bernd Stöver
  • China verstehen
  • Marco Polo. Leben und Legende (C. H. Beck Wissen)
  • Hildegard von Bingen begegnen
  • Ein kleines Buch von Papst Benedikt zur Fastenzeit
  • The Happiest Man on Earth. The Beautiful Life of an Auschwitz Survivor
  • Geschichte Albaniens und der Albaner
  • Madeleine Pauliac, l’insoumise
  • Pius XII. begegnen
  • Johannes Paul I. begegnen
  • Empress: The Astonishing Reign of Nur Jahan
  • Benedikt XVI. und seine Wurzeln. Was den Studenten Joseph Ratzinger prägte
  • Afrika. Die 101 wichtigsten Fragen und Antworten von Prinz Asfa-Wossen Asserate
  • 1521: Rediscovering the History of the Philippines
  • Wunderwerk Frau
  • A Brief History of Misogyny
  • Genies der Lüfte. Die erstaunlichen Talente der Vögel
  • Leben. Meine Geschichte in der Geschichte vom Papst Franziskus
  • Krypta. Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte
  • Bud Spencer. Kleine Anekdoten
  • Terence Hill. Kleine Anekdoten
  • Forgotten Ally. China’s World War II 1937–1945
  • The Nazis Knew My Name
  • Unerhörte Frauen. Die Netzwerke der Nonnen im Mittelalter
  • Ein kleines Buch über das Johannesevangelium von Papst Benedikt XVI.
  • El Sucesor. Mis recuerdos de Benedicto XVI von Papst Franziskus
  • I, mammal
  • Was wollt ihr denn noch alles?
  • Die Reise unserer Gene
  • It’s Not You von Dr. Ramani
  • Female Monarchs and Merchant Queens in Africa
  • Ken Saro-Wiwa (Ohio Short Histories of Africa)
  • Die Hohenzollern und die Nazis: Geschichte einer Kollaboration
  • Patrice Lumumba (Ohio Short Histories of Africa)
  • Uncommon wealth. Britain and the Aftermath of Empire
  • A Cabinet of Byzantine Curiosities
  • The Color of Grace. How One Woman’s Brokenness Brought Healing and Hope to Child Survivors of War
  • Zieht euch warm an, es wird noch heißer von Sven Plögi
  • Battling Injustice: 16 Women Nobel Peace Laureates
  • Wo unser Wetter entsteht von Sven Plöger
  • Transportnummer VIII/1387 hat überlebt: Als Kind in Theresienstadt
  • Sowjetistan
  • De Kim-dynastie. Geschiedenis van Noord-Korea
  • Black Girl from Pyongyang
  • The Great Successor. The Secret Rise and Rule of Kim Jong Un
  • Der gute Deutsche. Die Ermordung Manga Bells in Kamerun 1914
  • Hoch oben
  • The Girl with Seven Names
  • Rückeroberung. Die Geschichte von Manfred Gans, der im Mai 1945 Deutschland durchquerte, um seine Eltern aus dem KZ zu befreien
  • Gebrauchsanweisung für China
  • Africa is Not a Country
  • Amilcar Cabral (Ohio Short Histories of Africa)
  • Letzte Wege in die Freiheit. Sechs Pfadfinderinnen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus
  • Thomas Sankara (Ohio Short Histories of Africa)
  • Ich sang für die SS. Mein Weg vom Ghetto zum israelischen Geheimdienst
  • Mozambique’s Samora Machel (Ohio Short Histories of Africa)
  • Sind Tiere die besseren Menschen?
  • Africa plugged-in
  • Ten African Heroes
  • Mugabe (Ohio Short Histories of Africa)
  • Kwame Nkrumah (Ohio Short Histories of Africa)
  • Oh du, geliebter F*hrer. Personenkult im 20. und 21. Jahrhundert
  • Dictatorland. The Men Who Stole Africa
  • An African History of Africa
  • Wahrheit, Werte, Macht von Joseph Ratzinger
  • Das Geheimnis der Keltenfürstin. Der sensationelle Fund von der Heuneburg
  • Herrscherin im Paradies der Teuel. Maria Carolina, Königin von Neapel
  • In Männerkleidern. Das verwegene Leben der Catharina Margaretha Linck alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel, hingerichtet 1721. Biographie und Dokumentation
  • Forgotten Women: The Scientists
  • Die apokryphen Evangelien (C. H. Beck Wissen)
  • Mujeres en la historia
  • Heinrich V. Der letzte Salierkaiser von Gerhard Lubich
  • Escape from the Ghetto
  • The State of Africa von Martin Meredith
  • Die Verlockung des Autoritären
  • Wie Wind unser Wetter beeinflusst von Sven Plöger
  • Weltrettung braucht Wissenschaft
  • Breaking Dawn
  • Worms-Buch 1,5 (zum ersten Mal seit 4 Jahren)
  • Worms-Buch 1 (zum ersten Mal seit 4 Jahren)
  • Worms-Buch 2 (zum ersten Mal seit 4 Jahren)
  • Worms-Buch 3 (zum ersten Mal seit 4 Jahren)
  • Die Grenze
  • Die unerzählte Geschichte. Wie Frauen die moderne Welt erschufen – und warum wir sie icht kennen
  • Eine Liebesgeschichte zwischen einem König und seinem wichtigsten Wächter auf Englisch
  • Mittelalter von Robert Fossier
  • Die unbewohnbare Erde. Leben nach der Erderwärmung
  • We are displaced von Malala Yousafzai
  • Spiegel-Buch Die Sklaverei und die Deutschen
  • Frauen in Indien. Leben zwischen Unterdrückung und Widerstand
  • Big Sister, Little Sister, Red Sister
  • „Versuche, dein Leben zu machen“ von Margot Friedländer
  • Die Tänzerin von Auschwitz
  • Der kleine Frieden im großen Krieg (Weihnachtsfrieden 1914)
  • Das Mittelalter auf der Nase. Brillen, Bücher, Bankgeschäfte und andere Erfindungen des Mittelalters
  • Left to Tell. Discovering God Amidst the Rwandan Holocaust
  • Avitus von Vienne. Letters and Selected Prose
  • Rätsel Lichtensteinhöhle
  • Terence Hill – Die Biografie
  • Die Angst kam erst danach. Jüdische Frauen im Widerstand 1939–1945
  • Sonderbehandlung. Meine Jahre in den Krematorien und Gaskammern von Auschwitz

Ziehen wir ein Fazit:

2024 standen Frauen und Afrika nach der Dekolonialisierung im Fokus.

Absolute Leseempfehlung von mir:

  • Empress. The Astonishing Reign of Nur Jahan
  • Das Geheimnis der Keltenfürstin über die Funde von der Heuneburg
  • Thomas Sankara
  • An African History of Africa
  • I Am Malala
  • Amilcar Cabral
  • Die Tänzerin von Auschwitz
  • Zieht euch warm an, es wird noch heißer!
  • Madeleine Pauliac, l’insoumise
  • Die Hohenzollern und die Nazis: Geschichte einer Kollaboration
  • Sowjetistan

Das abgefahrenste Thema:

In Männerkleidern

Die anspruchsvollsten Bücher:

  • Heinrich V. Der letzte Salierkaiser (da es ein anspruchsvolles Thema mit einem entsprechend anspruchsvollen Schreibstil ist)
  • Die anderen Bücher beschreiben unfassbares Leid und abgrundtiefe Bosheit der Menschen:
  • Left to tell. Discovering God Amidst the Rwandan Holocaust
  • Forgotten Ally. China’s World War II 1937–1945
  • Sonderbehandlung. Meine Jahre in den Krematorien und Gaskammern von Auschwitz

Der König von Burgund und der Bastard, Kapitel 5

Dieses Kapitel braucht noch einen Titel! Ich habe es übergangsweise „Ein ungleicher Kampf“ genannt, doch das ist nicht der Weisheit letzter Schluss.

Es hat 3000 Wörter, ist also mittellang. Nachdem wir den Schwaben-Handlungsstrang beendet haben, ist das folgende Kapitel zunächst eine Art Atempause. Es geht um Character Building und Atmosphäre. Allerdings wird darin auch die Grundlage für einen späteren Handlungsstrang gelegt. Würde Hagen wissen, welche Folgen sein Verhalten später für ihn haben wird, würde er vielleicht anders reagieren …

Nach 16.000 Wörtern, in denen noch kein Schwertstreich gefallen ist, kommt es jetzt zum ersten Mal in Worms-Buch 4 zu einem Kampf! Außerdem mögen wir es doch immer, wenn a) Hagen impulsiv handelt und b) wenn die beiden Hauptfiguren miteinander interagieren. Nachdem sie in den vergangenen Kapiteln harmonisch zusammen Ränke schmiedeten, gibt es hier einen Streit, bei dem Gunther zu 100 % im Recht ist und er Hagen gewaltig die Meinung sagt.

Jetzt geht’s los:

Unter Jubel und Lobpreis kehrten sie wieder nach Worms zurück. Gunther gab die Herzogin mit ritterlich verhohlener Erleichterung in die Obhut der Königsmutter Ute und ihrer Frauenschar; sie würden die Schwäbin mit dem vielfältigen Flitterkram des Weiberdaseins rasch von ihren Einmischungsversuchen in die Leitung des Herzogtums abbringen.

Sie wiesen dem Knaben die besten Lehrer zu, gaben ihm eine geräumige Kammer weit weg von seiner Mutter, und beschlossen, dass es ausreiche, sich alle fünf Tage über den Fortgang seiner Studien und das Gedeihen der Freundschaft zu seinem Gastgeberreich zu unterrichten.

Ein zweitägiges Fest bildete den glanzvollen Abschluss der Schwabenangelegenheit. Gunther bewies dabei eine Geduld, wie Hagen sie nur bewundern, nicht aber nachahmen konnte; er war die ewige Anwesenheit anderer und ihr endloses Gerede über Nichtigkeiten inzwischen völlig leid, und sehnte sich beinahe verzweifelt nach einigen Stunden Ruhe und Ungestörtheit. Am ersten Festtag hat er sich noch zusammennehmen können und umgängliche Heiterkeit zur Schau gestellt – am zweiten war es ihm Verstellung genug, er schickte alle Langmut zum Teufel und verschanzte sich hinter Grimm und Schweigen. Das hatte zum Ergebnis, dass ihn nur noch die Unbedarften, die Tollkühnen und sein König ansprachen.

So stand er, an eine Säule gelehnt, den wackeren Genossen, den Weinkelch, in der Hand, und betrachtete die Menge der Tanzenden in der Saalesmitte. Die Kerzenflammen waberten im Rhythmus der Sprünge, und ihr Widerschein blitzte als Myriaden Lichtfunken über Edelsteine, Ringe und Stirnreifen. Volker von Alzey – einer der Tollkühnen ohne Zweifel – hatte ihm vorher umständlich zu erläutern versucht, dass der Endreim dem Stabreim in Liebesliedern stets überlegen war. Zudem hatte er seinen Vortrag immer wieder unterbrochen, um mit der Musik der fahrenden Spielleute mitzusummen und dann vor sich hinzumurmeln, an dieser oder jener Stelle hätte er die Weise abgeändert.

Hagen vertrieb ihn schließlich, indem er sagte: „Was soll’s – das Schwert ist immer mächtiger als die Fiedel, denn so ein Holzding kann das Schwert einfach zertrümmern!“

Eine Viertelstunde später erschien ein Knappe und überbrachte ihm die königliche Mahnung, er solle zum einen die Empfindlichkeit einer Künstlerseele beachten, und zum andern mit dem Wein etwas besser haushalten. – Natürlich, nur noch dieser eine Kelch oder zwei. Für seinen König mäßigte er sich gerne!

Sonderbare Musik, dass sie die Leute alle zum Mitwippen anspornte. Selbst die Bischöfe an der Tafel konnten sich eines verhaltenen Fingertrommelns nicht erwehren. Wirklich sonderbar.

Oh, da kam wieder jemand auf ihn zu. Dankwart. Um so wie der zu strahlen, müsste Hagen schon drei Stunden lang besoffen sein, aber auch nur an einem Tag, an dem er in einem Turnier gewonnen hatte.

„Hei“, sagte Dankwart sacht. „Falls du vorhast, irgendwann noch deinen Herzogsumritt zu beginnen, dann kann ich gerne mitkommen, um dir Wegführer zu sein und dir über alles Auskunft zu geben. Aber in sieben Monaten nicht mehr – dann braucht mich meine Frau.“ Er erschien vergnügt wie ein Welpe.

Dankwart als Begleitung mitnehmen? Auf keinen Fall! Die Lehnsmänner und alle Leute würde das zu ständigen Vergleichen verlocken, und da die Leute einfältig stets das bevorzugen, was sie schon kannten, fiele das Urteil selten zu Hagens Gunsten aus! Es hieße dann immer: ‚Seht nur den Dankwart mit seinem liebenswerten Wesen! In unsrer Mitte ist er herangewachsen, ein Sohn des Landes fürwahr! Der andere dagegen, ein Spross der Steppe; hinter jedem Lächeln lauert die Schärfe eines harten Willens. Er soll ja ein vortrefflicher Krieger sein, aber wir mögen ihn nicht, oh nein!‘

Er sollte Dankwarts Angebot freundlich ablehnen. „In der Tat plane ich, in nächster Zeit –“

Dankwart unterbrach ihn atemlos: „Weil ich nämlich Vater werde!“

Hoffentlich war’s kein Sohn, sonst bedauerte man gewiss, dass der Junge einst nicht erben durfte! Hagen hob den Becher. „Auf das Wohl von Mutter und Kind.“

Dankwart gab sich so hingerissen, als müsste es ihn fast zerreißen. „Ich sag’s dir, mit keiner anderen Frau hätte ich dieses Übermaß an Seligkeit je kennengelernt! Nichts hat mein Glück mehr befördert als die Verbindung mit Agnes, und müsste ich mich erneut entscheiden – ich gäbe freudig jedes Herzogtum dieser Welt hin, um sie zu bekommen.“

Dass der selbst nach drei Monaten Ehe noch derart betört war – Hagen sollte es recht sein; wenn Dankwart seine unmännliche Hingabe an ein Weib fleißig zelebrierte, fänden sich mehr Befürworter seiner Enterbung.

Vielleicht nähme er ihn doch auf den Umritt mit.

Neuer Abschnitt ab hier:

Der nächste Tag sah den immerregen Wormser Hof endlich einmal zurückhaltend. Die magere Teilnahme am frühen Gottesdienst gab dem Bischof Anlass zu heftigem Tadel, was freilich nichts nützte, da diejenigen, die der Grund seiner Empörung waren, nichts davon hörten.

Danach verabschiedete Gunther seine Gäste, geordnet nach Rang und Namen. Den Schwaben, die ihren Herzog bis zum Rhein geführt hatten, gab er das Geleit bis vor die Tore der Stadt.

Drauf kehrte man zurück in die Pfalz. Gunther ordnete an, dass jeder jetzt seinen eigenen Angelegenheiten nachgehen dürfe. Für ihn und Hagen hieß das, den Mittelpunkt der allgemeinen Beachtung für eine hart verdiente Stunde oder zwei verlassen zu können.

Er lud Hagen in die königlichen Gemächer ein, und Kriemhild ebenfalls. Zwei Knappen trugen ihr eine Kiste aus Kirschholz hinterher und stellten sich schnaufend auf dem Tisch ab. Taube Claudius geriet darüber in helle Aufregung und flatterte eine Runde durchs Zimmer.

„Hagen, rat nur, was drin ist!“, sagte Gunther lebhaft.

„Hoffentlich nicht der gesamte Inhalt der Schatzkammer.“

„Was? Unsinn, der passte nie in eine einzige Kiste. Nein, es sind Bücher!“

„Aus dem Kloster Lorsch“, warf Kriemhild ein. „Ich hab sie ausgewählt.“

„Ich hab’s meiner Schwester aufgetragen, bevor wir nach Schwaben gezogen sind. Jedes Vierteljahr leihen wir bei den Abteien ein paar Dutzend aus.“

Kriemhild drehte den Schlüssel um und stemmte den Deckel hoch. Zwei Stapel ledergebundener Codices warteten verheißungsvoll auf einen, dem sie ihr Wissen offenbaren durften. Früher, als Hagen Gerds mustergültiger Schüler gewesen war, hätte ihn bei diesem Anblick rasende Begeisterung gepackt. Jetzt erfüllte ihn die Gegenwart der Bücher immerhin noch mit der Überlegung, ob er zwischen Reichsführung, Umritt und täglichem Schwertkampf für zwei oder drei wohl noch Zeit finden könnte.

Kriemhild holte ein Pergament heraus. „Der Abt sendet viele Grüße und beglückwünscht den König zu seinem auserlesenen Geschmack. Er hat auch ein Buch mit erbaulichen Heiligengeschichten für die Damen beigelegt, leicht verständlich, wie es angemessen ist, denn die Speise des Wissens sei dem schönen Geschlecht nur in kleinen Dosen bekömmlich. – Da ist ja mein Buch über den gallischen Krieg! – Hier, das wird dir gefallen, frommer Bruder, die Lorscher haben ganz neu einen Codex aus St. Gallen kommen lassen und kopiert: Einen Beda Venerabilis!“

Gunther nahm ihr das Buch sofort aus der Hand und blätterte ehrfürchtig darin herum. Dann legte er es zur Seite und fragte: „Sind auch Väter dabei?“

„Natürlich. Ich dachte mir, dass du auf ein Werk von Ambrosius nicht verzichten wolltest; es wurde auf der Reichenau abgeschrieben und ist von den Lorschern eben erst geprüft worden. Sie haben es gerade wieder zurückschicken wollen, als ich davon erfuhr und in deinem Namen Veto einlegte. Wie habe ich das gemacht?“

„Hervorragend wie stets! Und da ist das Kompendium der Vätertexte, von dem ich dir erzählt hab.“ Er nahm einen besonders abgegriffenen Band heraus und überreichte ihn Hagen. „Wie man sieht: vielgeschätzt und vielgeliebt. Ich ließ ihn wohl schon siebenmal nach Worms bringen, als ich noch Thronerbe war.“

„Dann lass ihn doch nun abschreiben für die Hofbibliothek.“ Er überflog ein paar Absätze. An den Rand der Seiten waren, in unterschiedlichen Handschriften, knappe Marginalien notiert worden, zur Hervorhebung besonders wichtiger Stellen: „utilis ratio“, „optima ratio“ und dergleichen. Auf einer Seite erkannte er Gunthers ordentliche Schrift, und darunter, das – durfte er seinen Augen trauen? Das stammte von Bischof Gerds schwungvoller Hand. Vor über zehn Jahren hatte er dieses Buch gelesen, und das Pergament bewahrte treu sein Andenken. „Oder lass die Mönche die Abschrift behalten, und füge genau dieses deiner Sammlung bei.“

Kriemhild wollte seine Aufmerksamkeit erregen und schlug ihn leicht auf den Arm. „Das hier sind die ersten zwei Bände der Lorscher Chronik über die Herrschaft meines Vaters. Ich dachte mir, es schadet nicht, wenn du hineinschaust; es ist wohl nicht mehr viel, aber doch manches, was dir unbekannt ist über all die Wirren der letzten Jahre.“

„Bestens, vielen Dank.“

Gunther war schon ins nächste Buch vertieft; nun sah er auf und zeigte ihnen, wie gründlich der Exeget am Rande die Urheber jedes Gedankens aufgeführt hatte; Kürzel gaben Namen und Werk an, und meist noch das entsprechende Kapitel. Kriemhild wollte gerade die nächsten Codices aufschlagen, als draußen im Hof Lärm entstand.

„Oh, was ist denn“, murmelte Gunther, legte sein Buch beiseite und trat ans Fenster. Hagen folgte ihm; Kriemhild sagte, sie lasse sich nicht stören vom Grölen des Pöbels.

Doch es waren nicht viele, die diesen Aufruhr veranstalteten, sondern einer allein: Er stand in der Mitte des Hofes, gerüstet und gewappnet, und forderte lauthals den besten Kämpfer heraus. Seinem forschen Zungenschlag nach musste er ein Bayer sein.

„Meint er mich?“, fragte Hagen. „Wenn ich hinuntergehe, wirft man mir dann Hochmut vor?“

„Nein, bleib hier. Der Herzog von Tronje braucht nicht den Launen eines dahergelaufenen Bayern zu gehorchen.“

Hagen zuckte die Schultern und ging zurück zu den Büchern. Lange konnten sie sich den Schätzen des Lorscher Skripturiums leider nicht mehr widmen, denn kurz darauf klopfte es an der Türe. Ohne den Diener ausreden zu lassen, sprang Giselher herein. „Habt ihr es nicht gemerkt? Es steht ein Kämpfer auf dem Hof, der –“

„Ich weiß, ich weiß“, unterbrach ihn Gunther, „wir sind ja nicht taub.“

„Gut! Denn alles wartet schon gespannt auf Hagen!“

„Auf den besten Kämpfer“, sprach Kriemhild und drehte versonnen eine Haarsträhne um den Finger.

Gunther seufzte überdeutlich. Dann schlug er mit einer wohlbemessenen Geste grimmiger Endgültigkeit den Kistendeckel zu. „Wir schauen, was der uneingeladene Gast von uns will. – Nicht du, Kriemhild! Du bleibst hier.“

Mit mäßiger Geschwindigkeit schritten sie durch die Gänge; Giselher wollte ihnen vorausrennen und ihr Kommen den Versammelten ankündigen, aber Gunther hielt ihn zurück. Recht so. Sollte der Fremde nur warten!

Als sie in den sonnigen Hof hinaustraten, brachen die Scharen in Jubel aus. Schon mehrere hundert hatten sich zusammengefunden, Ritter, Gesinde, Stadtbürger und Reisende.

Gunther blieb auf dem Absatz der Saalstiege stehen und hob die Hand. Schweigen strich über die Menge hin. „Was soll die Unruhe, liebe Wormser?“

Eine Vielzahl von Stimmen antwortete ihm zuerst, und man verstand kein Wort; nachdem die Rücksichtsvollen von selber verstummten und die Schwerfälligen zur Ruhe gezischt worden waren, gab der Fremde laute Antwort: „Ich bin Egbert von Krummenstein, Vasall des Herzogs von Bayern. Ich bin der beste Fechter des Jahrhunderts, und wer’s nicht glaubt, dem werd ich es beweisen. Zehn Ritter hab ich schon besiegt, im noblen Kampf zu zweit. Da mein Schwert längst noch nicht gesättigt ist, sein Stahl noch immer Durst verspürt, gelüstet’s uns nach einem neuen Gegner. Nun hörte ich, in Burgund gibt’s einen ansehnlichen Krieger, Sieger über Etzel – ist das wahr?“

Hagen beschied sich mit Schweigen. Genug andere antworteten für ihn.

„Gut“, rief der Ritter, „das klingt recht vielversprechend. Vielleicht wird er’s mir schwerer machen als die andern, weil bei denen war es ein Spiel für mich.“ Er deutete mit langem Arm zum Sattel seines Pferds hinüber, von dem zehn Ringe herabhingen. „Das hier sind die Beweise meiner Heldentaten, jedes Besiegten Siegelring! Wenn Ihr unterliegt, Herzog, wird Eurer sich dazugesellen.“

Jaja.

„Nehmt Ihr den Kampf an, Tronjer?“

Die Leute kreischten und jubelten; Hagen bedeutete ihnen, sie sollten stille sein.

„Ihr wollt meinen Ring im Falle Eures Sieges – doch was versprecht Ihr mir, wenn ich gewinne?

Der Bayer regte sich voll Genuss. „Das Leben.“

Hagen entfuhr ein trockenes Lachen.

Während die Leute sich drüber erheiterten, dass einer Hagen von Tronje mit der Aussicht auf nichts zum Kampf reizen wollte, drückte Gunther drängend seinen Arm und raunte: „Geh nicht drauf ein. Der ist nicht ganz bei Sinnen.“

„Das glaub ich auch.“

„Ja“, rief der Bayer volltönend, „das Leben wird der Siegespreis sein! Und der Verlierer bekommt den Tod! Das sind die Regeln meines Kampfes. So einfach ist das!“ Er deutete spöttisch auf Hagen. „Nehmt Ihr meine Herausforderung an?“

Beifall und Gejohle brachen los wie ein Sturm. – Was für ein Tor. Eine kleine Scharte könnte sein Stolz gut vertragen.

„Nichts da“, zischte Gunther mit ungeahnter Heftigkeit, „sag ihm, dass er sich Gegner seines Ranges suchen soll, und mein erster Vasall ist nicht Spielgefährte eines Narren.“

„Aber er ärgert mich.“

„Hehe!“, schrie der Bayer aus Leibeskräften, „Ihr schwankt noch und zögert? Ihr tut gut daran! Denn das Ergebnis, einmal erzielt, lässt sich nicht wieder rückgängig machen! Seid Ihr klug, so klug, wie man Euch zuschreibt, dann nehmt Ihr die Herausforderung nicht an! Feigheit hat schon viele gerettet.“

Hagen lächelte.

„Nun wartet einmal“, rief Gunther zum Bayern hinab, „denn ich bin noch unschlüssig, ob ich Euch als Gast oder als Friedensstörer empfangen soll.“ Und leise zu Hagen: „Der ist verrückt. Wir lassen ihn unbeschadet fortziehen.“

„Ja. Ich entwaffne ihn.“

„Nein! Ein Herzog braucht nicht auf das Gebell eines Köters einzugehen.“

„Es ist kein Aufwand. Geht ganz schnell.“

„Du könntest zu Tode kommen, zum Teufel! Wegen eines kläffenden Fremden gefährde ich nicht meinen wichtigsten Ratgeber!“

Der Zorn stieg auf wie Galle. Dreiundzwanzig Schlachten, der Kampf gegen Etzel, keiner reichte an seine Meisterschaft heran – und sein König fand noch immer Anlass zur Sorge? „Dann seh und staune“, sagte Hagen tonlos, wandte sich um und stürmte die Stiege herunter in vier großen Sätzen. Beim letzten Sprung zog er das Schwert, landete mühelos und rief: „Los, Ihr fallt mir lästig!“

Was kümmerte es ihn, dass er weder Rüstung noch Schild trug, der Bayer dagegen mit dem Kettenhemd beschirmt war? Es machte keinen Unterschied.

Egbert der Bayer war bei seinem Ansturm überrascht zurückgewichen; schnell ergriff er den Schild und zog die Waffe. Das gab Hagen Zeit genug, dass er entscheiden konnte, ob er das Ende des Zweikampfs hinausziehn oder den Toren gleich sofort niederstrecken wollte. Jajaja! Sein König sollte erkennen, wie er zu fechten imstande war!

Es wurde der kürzeste Kampf, den die Pfalz zu Worms je gesehen hatte. Der Staub von Hagens Landung hatte sich noch nicht gelegt, da lag der Bayer schon am Boden. Hagen steckte beide Klingen durch den Sehschlitz des Helms.

Die Leute verharrten atemlos.

„So viel zu Eurer Herausforderung“, sagte Hagen mit stählerner Stimme. „Mein Vorschlag für die Strafe des Verlierers: Der Ausgang des Gefechts soll noch schlimmer sein als der Tod – denn der Unterlegene wird verschont und muss mit der Schmach der Niederlage leben!“

Er zog geschwind die Klingen aus dem Sehschlitz; das Schwert des Bayern warf er unbeeindruckt neben ihm zu Boden. Er gab vor, die Raserei der Zuschauer nicht zu hören, und schritt die Stiege hinauf, so unbekümmert, als habe er lediglich eine Mücke fortgescheucht.

Auf halben Weg holte ihn Kriemhild ein, hatte vermutlich von einer Seitentüre aus zugeschaut und war ihm jetzt hinterhergeeilt. Die hörte auch nie auf ihren Bruder. Er wandte sich halb zu ihr. Sie nahm seine Hände. „Mein wilder Fechter! Ich weiß gar nicht, ob es dich ehrt oder beleidigt, wenn ich dich zum Sieg beglückwünsche – derart mühelos war es!“

„Es ist nicht der Rede wert.“

Sie ließ seine Hände wieder los und suchte stattdessen, den Staub von seinem Gewand abzuklopfen. Da gab es freilich nicht viel zu finden. Nachdem sie etwas an seiner Schulter herumgezupft hatte, gab sie vergnügt wieder auf. Sie spähte an ihm vorbei auf den Hof hinab. „Dein armseliger Widersacher ist nicht mehr keck wie vorher.“

„Geschieht ihm recht.“

Er stieg die verbleibenden Stufen hinauf. Oben erwartete ihn sein König. Dessen Miene zeigte Hagen genau, welch ein Gewitter sich nachher über ihm entladen würde.

„Jetzt hat er Demut gelernt“, sagte Hagen leichthin. „Möge es ihm zum Vorteil gereichen.“

Ein Wächter trat an Gunther heran. „Wie sollen wir mit dem Fremden verfahren, Herr? Sollen wir ihn von dannen jagen?“

„Gebt ihm einen Schlauch Wein, ein Bündel Essen, und wünscht ihm – gute Reise.“

Eilfertig gab der Wächter die Anweisung weiter.

„Bist du Hagen böse?“, fragte Kriemhild. „Ich bin es nicht, ich hatte völliges Vertrauen in seine Kampfkünste.“

Gunthers Blick glitt zu ihr und verlor dabei nichts an Härte. Er deutete Richtung Kemenate.

„Fort mit dir. Der Bayer starrt schon her. Ich will nicht, dass du vor Fremden herumtänzelst.“

Sie atmete nur unwillig aus und ging dann gehorsam davon.

Gunther sah ein letztes Mal in den Hof hinab. Dann bedeutete er Hagen unwirsch, ihm zurück in den Palas zu folgen. Kaum waren sie den fünfhundert Augen der Leute draußen entkommen, als Gunther herumwirbelte: „Bist du denn immer noch besoffen? Was hast du dir dabei gedacht? Rennst einem Wildfremden vor die Klinge, und auch noch –“, er versetzte ihm einen Stoß gegen die Brust, „ohne Rüstung?“

„Mein König, seid ohne Sorge. Ich kann Gefahr sehr wohl einschätzen, ich hab in dreiundzwanzig –“

„Schlachten, jaja! So unbesiegbar bist du nicht gewesen, sonst sähe deine Haut nicht aus wie ein Fischernetz!“

Das tat weh.

„Größte Torheit, dich einfach vom Gefasel dieses Niemands reizen zu lassen!“

„Ich wusste, was ich wagen darf. Mich ehrt deine Empörung, aber sie tut nicht not.“

„Um Himmels willen!“, rief Gunther, „ich machte dich wegen deiner Klugheit zum Herzog, nicht wegen deiner Kampfkunst. Heute merkte ich freilich nichts von deiner Vernunft!“

„Warum soll ich mich feige –“

„Weil es ein Kampf war auf Leben und Tod! Hätte er kämpfen wollen wie bei einem Turnier, dann nur zu, fechte so lang du willst, und ich würd drei Goldbarren auf dich wetten – aber wegen einer Torheit wie dieser will ich nicht meinen besten Berater verlieren, und Freund! Wenn“, er fuchtelte vage Richtung draußen, „wenn du gegen, gegen hundert Männer kämpfen würdest, dann würdest du bei achtzig mühelos gewinnen, ja – bei zehn wär es schwer, und bei den andern zehn, da könnte gar einer dabei sein, der dich besiegen würd. Und –“

„Du magst Recht haben. Mir war es allerdings von Anfang an bewusst, dass dieser hier zu den achtzig gehört.“

„Jeder kann sich täuschen. Im Übrigen – wüsste ich’s nicht, würd ich nie vermuten, dass du Etzel besiegt hast. Also lass die Sturheit und sieh endlich ein, dass ich recht habe! Was hätt’ ich tun sollen, wenn meine wichtigste Stütze mit einem Schwert im Herzen verröchelt?“

Sein König war zu keinem so herrisch wie zu dem, dessen Hingabe er nie verlieren könnte. Zum ersten Mal bei diesem Streit wich Hagen seinem Blick aus. „Ja gut“, sagte er langsam. „Ich ging möglicherweise unbedacht vor. Doch in der Schlacht habe ich schon oft gegen Unbekannte gefochten.“

„Stell dich nicht begriffsstutzig! In der Schlacht ist’s gut so – für ein Gefecht gegen Taugenichtse ist mir jeder Krieger zu schade!“

Hagen seufzte. „Ich – seh es ein. Vielleicht hat mich der Stolz zu sehr angespornt. Beim nächsten Mal zügle ich mich früher.“

Er sah sich rasch um, ob jemand seine Zurechtweisung und seine Kapitulation beobachtet hatte. Es waren zum Glück nur zwei Wächter in der Nähe, die sich alle Mühe gaben, seine Verlegenheit mit rücksichtsvoller Nichtbeachtung zu lindern.

Anmerkungen:

„Sie würden die Schwäbin mit dem vielfältigen Flitterkram des Weiberdaseins rasch von ihren Einmischungsversuchen in die Leitung des Herzogtums abbringen“: Hier lasse ich nur eine misogyne Figur sprechen! Wahrscheinlich ist es Hagen nicht einmal bewusst, dass er frauenfeindlich denkt. Allerdings zeichnet er sich im Epos auch nicht gerade durch feministische Ansichten aus … Die Autorin selber denkt ganz anders als Hagen. Wisst ihr, wen ich dagegen als unerwarteten mittelalterlichen „Feministen“ einordnen würde? Bischof Burchard von Worms! (1000–1025). Später werde ich zu einem Blogartikel über ihn verlinken.

„Grimm und Schweigen“: „Grimm“ klingt natürlich weitaus getragener, ja legitimer als „Grantigkeit“. Aber Hagen ist in dieser Geschichte als unzuverlässiger Erzähler angelegt. Mit 15 hat noch niemand „Grimm“, da heißt das einfach „schlechte Laune“ …

„Um so wie der zu strahlen, müsste Hagen schon drei Stunden lang besoffen sein, aber auch nur an einem Tag, an dem er in einem Turnier gewonnen hatte.“: Dieser Satz ist unbeholfen formuliert. (Jaja, ich weiß, alle anderen sind das auch, aber bei diesem steckte sogar Absicht dahinter! So!) Er soll zeigen, dass Hagen nicht mehr der Nüchternste ist. Da ich selber keinen Alkohol trinke und keine Feste besuche, kann ich diesen Zustand nur annähernd wiedergeben.

„Unmännliche Hingabe an ein Weib“: Im Erec-Epos wird dem Helden der Vorwurf gemacht, dass er sich zu sehr um seine Frau kümmere. (Der Vorwurf ist sogar noch konkreter als hier, wo Dankwart einfach allgemein von ihr hingerissen ist, also auch von ihrem Wesen und ihrem Charakter. Erec verspottet man, sich mit Enite „verlegen“ zu haben, also sozusagen einen überlangen „Honeymoon“ zu leben.)

„Für ihn und Hagen hieß das, den Mittelpunkt der allgemeinen Beachtung für eine hart verdiente Stunde oder zwei verlassen zu können“: Bei mir sind die beiden Hauptfiguren als introvertiert konzipiert. Wer war noch introvertiert und muss vielmals als Inspiration herhalten? Natürlich Bismarck! Obwohl im Hause Bismarck oft viel Trubel herrschte, Gäste ein-und ausgingen, im Garten Kinder und Hunde spielten, während irgendwelche Familienmitglieder mit Pistolen herumballerten usw., zog sich Bismarck doch manchmal für eine Stunde nach oben zurück, um in aller Ruhe Zeitung zu lesen. Er machte auch gerne lange Ausritte oder Spaziergänge. In den letzten Jahren seiner Kanzlerzeit hielt er sich fern der quirligen Hauptstadt (und des energiegeladenen Wilhelms II.) monatelang auf seinen Gütern auf.

Seid ihr auch introvertiert? Ihr seid wie Bismarck!

Die Sache mit den mittelalterlichen Handschriften basiert auf dem Buch „Karolingische Klöster. Wissenstransfer und kulturelle Innovation“ der Reihe „Materiale Textkulturen“, herausgegeben von Professor Stefan Weinfurter. Ich habe das Buch als eBook gekauft, da kostet es 0 Euro. (Wie war das nochmal mit den sparsamen Schwaben?)

Dem Buch habe ich verschiedene Infos entnommen: Abschrift und Gegenprüfung einer Handschrift erfolgte in verschiedenen Klöstern; nach erfolgter Prüfung brachte der Prüfer oft einen Vermerk an. Manchmal hinterließ auch der Abschreiber seinen Namen, bisweilen mit einer Bitte um ein Gebet oder mit einem Stoßseufzer, wie mühevoll die Arbeit gewesen war. Dass die Rezipienten den Text mit Randbemerkungen versahen, ist ebenfalls historisch verbürgt. (Wobei es mich beim Schreiben sehr viel Überwindung kostete, Gunther und Bischof Gerd zu solchen Barbaren zu machen, die in Bücher kritzeln.) Die lateinischen Phrasen sind Zitate aus dem Buch. Gründliche Quellenarbeit, wie sie hier bei einem Exegeten angedeutet wird, war schon zu karolingischer Zeit bekannt.

„die Speise des Wissens sei dem schönen Geschlecht nur in kleinen Dosen bekömmlich“: Wissensaneignung wurde schon in einem karolingischen Text mit Nahrungsaufnahme verglichen.

Dass sich Kriemhild als junge Dame ein Buch über einen Krieg kommen ließ, halten alte weiße Männer bestimmt für modernen Firlefanz, an den Haaren herbeigezogen, „woke“ – sofern sie das Wort kennen. Dabei gibt es genug Frauen, die sich auch für angebliche „Männerthemen“ interessieren. Ich kenne zum Beispiel drei Geschwister, zwei Brüder und eine Schwester, von denen einer genau 0 Bücher zu Kriegen hat, einer genau eines (ein Geschenk seiner Schwester), während die Schwester ihre Bücher über Krieg noch zählen muss und dann die Anzahl hier (          ) eintragen wird.

„Sind auch Väter dabei?“ Gemeint sind die Kirchenväter. Hier wird Ambrosius von Mailand erwähnt. Er verweigerte dem Kaiser Theodosius den Zutritt zur Kirche, bis er Buße für ein Massaker ablegte. Gunthers Lieblingskirchenvater ist aber Augustinus von Hippo.

Reichenau: Insel im Bodensee mit wichtigem Kloster. Insel und Kloster kann man besichtigen. Die Insel ist heutzutage auch als „Gemüseinsel“ bekannt, und so sieht es dort auch aus.

Dass Hagen überlegt, ob er bei so viel Politik, Umritt und Schwertkampf noch Zeit für Bücher finden könnte, ist wieder einmal inspiriert von Bismarck. Er erzählte einmal, es verhalte sich mit der Politik wie mit dem größten Karpfen im Teich, der alle anderen auffrisst, bis er alleine übrigbleibt: So habe bei ihm die Politik alle anderen Leidenschaften aufgefressen.

Ein Haudrauf fordert einen Burgunden zum Zweikampf: Das ist ja nichts Neues, im Epos macht es Siegfried genauso, indem er Gunther, den rechtmäßigen König von Burgund, zum Zweikampf um das Königreich Burgund fordert. (Dieser Auftritt zeugt nicht gerade von überragendem politischen Feingefühl.) Dieser Bayer wird in späteren Kapiteln wieder zurückkehren und Hagen einige Probleme machen.

Der König von Burgund und der Bastard, Kapitel 4

Dieses Kapitel braucht noch einen Titel!

Das Kapitel hat 4000 Wörter. Unten stehen wieder Anmerkungen.
Mit diesem Kapitel nimmt der Schwaben-Handlungsstrang sein Ende.

Zwei Tage später ritten sie in die Ebene hinab, um die Herzogin und ihr Gefolge zu begrüßen. Hagen hielt Gunther den Steigbügel, wie es ihm als ranghöchstem Fürsten oblag. Der Herzogin gewährte der Bischof von Konstanz dieselbe Ehre.

Gemessen gingen König und Herzogin aufeinander zu – vier und sechs Schritte, ach, der Alzeyer konnte argumentieren, soviel er wollte: Hagen trüge es ihm immer nach. An der Hand hielt die Herzogin ihren Sohn. War man mit sieben so klein? Hagen hatte noch nie einen Gedanken daran verschwendet.

Er folgte seinem Herrn in kurzem Abstand, so wie der Bischof von Konstanz auf der Seite der Herzogin. Gunther umarmte die Herzogin herzlich, küsste sie und sprach ihr mit warmen Worten sein Beileid aus. Das Zurschaustellen von weicher Liebenswürdigkeit und allgemeiner Güte beherrschte er bestens – es lag ihm im Charakter – und darum konnte Hagen sich erleichert zurücknehmen mit dem Säuseln süßer Floskeln.

Die Herzogin war gerade noch jung zu nennen, vielleicht fünfundzwanzig – er konnte Frauen nicht einschätzen. Als sie voreinanderstanden, riss die Herzogin die Augen auf und sagte: „Oh.“ Ihr Blick wich nicht von Gunther. Eine leichte Röte überzog ihre Wangen, als sie hinzufügte: „Das seid Ihr also, Herr von Burgund.“

Im wohlberechneten Ränkespiel hatte Hagen bei allem Nachdenken doch diesen einen Vorteil übersehen. Glückliche Fügung, dass sein Herr mit einem sehr vorteilhaften Äußeren begnadet war und die Weiberwelt damit berückte.

Der Bischof von Konstanz, der Begleiter der Herzogin, betrachtete Hagen mit zusammengekniffenen Augen und deutlichem Missfallen. Nur zu! Er würde die Zweifler schon umstimmen.

„Mein treuester Berater, Bischof Gebhard von Konstanz“, sagte die Herzogin, nachdem sie sich aus ihrer Berückung befreit hatte.

Mein treuester Berater, Herzog Hagen von Tronje.“

„Ihr seid wahrhaftig so jung“, sagte der Bischof. „Und ich hatte gehofft, es sei nur Übertreibung, derer sich unser Jahrhundert oft genug schuldig macht.“

„Die Wehklagen, die jugendliches Alter erweckt, sind auch uns bekannt“, erwiderte Hagen. „Umso größer unser Verständnis für die Lage Eures jungen Herrschers.“

„Ganz genau“, rief Gunther, „und umso mehr freut es mich, meinen Nachbarn nun kennenzulernen!“ Er ging tatsächlich in die Hocke und reichte dem Knaben beide Hände. Das war freilich zu viel der Ehre, he! Trotz allem war der Herzog nur ein unbedarftes Kind.

„Seht ihn, den armen, vaterlosen“, sprach die Herzogin weinerlich. „Er muss Flüchtling sein im eigenen Land, wird gejagt wie ein schlanker Hirsch von jenen, die ihn beschützen sollten! Kann’s ein traurigeres Schicksal geben?“

Oh, Hagen hatte sie gleich durchschaut: Die Herzogin zelebrierte ihre Schwäche, kleidete sich ins Weiß der unschuldig Geschlagenen und trachtete danach, sich ins Herz der Gutmütigen zu bohren. Wär sie ein Weib, das jammerte, wie’s Weiber eben taten, da ihnen die Kraft zu Taten fehlte – dann könnte Hagen es ihr nachsehen, denn die Schwäche ihres Geschlechts wär der Freispruch für ein bisschen Selbstmitleid, und mit gutem Zureden war eine Frau für gewöhnlich rasch gewonnen für die vernünftige Männeransicht; die Herzogin aber war sich ihrer Wirkung wohl bewusst, und das missfiel ihm. Sie wollte ihre Schwäche einsetzen, um Männer damit zu täuschen und zu leiten. Wohlan, sein König und er würden die Listige überlisten. Bei den Verhandlungen mit der Frau würde Hagen im Schatten bleiben und seinen Herrn das Wort führen lassen. Die Herzogin würde Gunthers angeborene Sanftmut natürlich für das Ergebnis ihrer Überzeugungskünste nehmen und seinem Angebot stürmisch zustimmen, im Glauben, sie halte das Heft in der Hand.

Gunther hockte noch immer bei dem Jungen, schaute jedoch fragend zur Herzogin auf. „Erlaubt Ihr, dass ich Eurem Sohn ein Geschenk überreiche? Schließlich bin ich Gast in seinem Land.“

Die Herzogin lehnte mit blumigen Worten zum Schein ab, und gab erst nach behutsamem Drängen nach. Der kleine Herzog hatte dagegen gleich von Anfang an nach seinem Geschenk verlangt.

Gunther schnallte einen Dolch von seinem Gürtel ab. Frau Ute hatte ihn in Worms überreden wollen, dem Jungen einen nicht geschärften zu geben. Gunther hatte sich widersetzt, denn allzu zahnlos wollte auch er nicht scheinen. Das Heft war aus Elfenbein gefertigt, abwechselnd mit Saphiren und Smaragden besetzt, und, was in Kriegeraugen nur Firlefanz war, aber einer Frau als Gipfel der Schönheit gelten musste: Die Klinge war vergoldet. Entsprechend begeistert war sie da, und der junge Herzog fuchtelte gleich eifrig herum. Gunther erhob sich geschwind, ehe ihn noch ein ungelenker Streich ins Gesicht träfe. „Mein Herzog könnte ihm ein paar Lehrstunden geben. Er hat, wie Ihr sicher wisst, den Hunnenkönig im Zweikampf besiegt.“

Hagen gab sich erfreut. „Es wäre mir eine Ehre. – Wer, wenn ich fragen darf, lehrt Euren Sohn, die Lasten der Herrschaft zu tragen?“ Er hob beschwichtigend die Hand. „Abgesehen von Euch, edle Frau, die an der Seite eines großen Herrschers reiche Erfahrung gewann, und Euch, geschätzter Bischof, der die Tugend hütet. Wer bereitet den Knaben vor auf Krieg und Anfechtungen?“

„Ihr redet daher wie meine Fürsten“, sagte die Herzogin beleidigt.

Gunther schüttelte den Kopf mit nachsichtiger Besorgnis. „Dem ist nicht so. Wir hoffen nur, dass Euer Sohn vorbereitet wird auf die Stürme, die seiner harren.“

„Denn jeder Herrscher, und sei er auch so sanftmütig wie der meine, wird eines Tages – ja, oftmals allzu bald! – gezwungen sein, das Schwert zu ziehen zur Verteidigung seiner angestammten Güter. Mein König musste schon gegen seine eigenen Leute kämpfen, und dabei gibt es keinen andern, der inniger den Segen jahrzehntelangen Friedens herbeisehnt.“

„Die Last der Herrschaft wiegt zehntausendmal tausend Seelen, und ich wär oftmals gestrauchelt, hätt’ ich nicht einen Beschützer, eine treue Stütze, der mich in allen Kämpfen beschirmt, sei es vor den Hieben tödlicher Schwerter in der Schlacht, sei es vor den Giftpfeilen verlogener Zungen in fürstlicher Runde, sei es vor den verborgen schwelenden Folgen falscher Entscheidungen.“

„Das tu ich gerne, Herr.“

„Wer, frag ich, wird dem Herzog Schwabens Beschützer sein, so wie mir Herzog Hagen der Beschützer ist? Denn einen Helfer in Not und Gefahr hat Euer teurer Sohn zuhöchst verdient.“

Vortrefflich, wie sein Herr das machte! Echt und ehrlich schien die Besorgnis, aufrichtig die Zuneigung zum Schwabenspross.

Die Herzogin erwiderte Gunthers Blick; hatte sie je noch Vorbehalte gehegt, so schmolzen sie nun wohl dahin.

Hagen lehnte sich leicht vor. „Mein König, ich stimme Euch zu in allem, doch wollen wir die Herzogin jetzt ins Lager geleiten, damit sie sich erhole von den Anstrengungen der Reise, ehe wir über die Verwicklungen, die sie herführten, zu sprechen kommen?“

Die Herzogin sollte warten und sich gedulden müssen. Das Hoffen auf den König von Burgund würde ihr taktvoll zeigen, wer Bittsteller und wer Wohltäter war.

Neuer Abschnitt ab hier:

Während Gunther mit lobenswerter Gleichmut die Herzogin in seinem Zelt bewirtete und ihr allerhand Geschenke überreichte (Steine, Stoffe und viele weitere Zeugnisse burgundischer Großzügigkeit), bewies Hagen vor den Männern ihres Gefolges ebenfalls burgundische Höflichkeit, wechselte mit jedem ein paar Worte und forschte vorsichtig nach, wie sie zu seinem König standen. Es erfüllte ihn mit Genugtuung, dass Gunther sich die Anerkennung der meisten gewonnen hatte; die einen waren beeindruckt, dass er aus Rücksicht auf den schwäbischen Verlust ein fröhliches Fest beendet hatte, die anderen gaben mit verhüllten Worten zu verstehen, dass ein König, der vom eigenen Tross lebte in einem fremden Land, ein Muster an Anstand war.

Einige Grafen und Ritter hatten sie auf ihrer Reise bereits früher getroffen. Graf Heinrich, dessen Tochter Gunther so umsichtig mit Arznei versehen hatte, hörte gar nicht mehr auf, Hagens Hand zu schütteln, und bat ihn ein ums andere Mal, dem König seinen schönsten Dank zu übermitteln. – Bestens, bestens war es bisher gelungen.

Am späten Nachmittag ritten Gunther und seine Fürsten erneut hinunter zum Donauufer: Die andere Partei, die streitbaren Fürsten, trafen ein. Ihr Heer lagerte ein paar Meilen entfernt, zum Kampf bereit, sollte der Vermittlungsversuch nicht das gewünschte Ergebnis zeitigen.

Dieses Mal ging Gunther den anderen nicht entgegen, sondern wartete stolz, bis sie heran waren. Er neigte sich nicht so tief wie bei der Herzogin, und auch Hagen wahrte genau das Ausmaß der nötigen Ehrbezeigungen. Als Herzog war er allen hier im Rang überlegen.

Mit wohlbedachten Worten dankte Gunther den Männern für ihr Kommen, für ihre Bereitschaft zur unblutigen Beilegung des Zwists, und für die gütige Aufnahme, die ihm in allen Burgen auf dem Weg zuteil geworden war. Die Fürsten erwiderten den Dank mit pflichtbewusster Bescheidenheit. Die zehn höchsten unter ihnen folgten ihm alsdann in sein Zelt. Ein langer Tisch war dort aufgebaut, und bester Wormser Wein bereitgestellt.

Man setzte sich. Als Vertreter Burgunds waren außer Gunther und Hagen nur noch Markgraf Eckewart und Markgraf Ortwin zugegen; auf Fürbitte eines zurecht vergrämten Fürsten hatte Gunther den Alzeyer kurzfristig ausgeschlossen.

„Ihr lieben Männer“, sagte Gunther, nachdem auf das Wohl des jungen Herzogs getrunken worden war, „nun nennt mir freiheraus Eure Sorgen; ich verspreche, dass nichts, was sie nicht hören soll, der Herzogin zu Ohren kommen wird.“ Sein langsames Zurücklehnen müsste jeder andere für die Bereitschaft aufmerksamen Zuhörens halten; Hagen wusste, dass es vielmehr Erleichterung war, den weiteren Fortgang der Ereignisse seinem treuesten Mann überlassen zu dürfen.

„Die Herzogin verweichlicht den Jungen!“, rief der Graf von Reutlingen.

„Sie verweigert sich unserem Rat und ist nicht bereit, den Herzog einem Mann zur weiteren Erziehung zu übergeben!“, sagte der Graf von Friedberg.

„Ich sprach zu ihr vor zwei Monaten, und erinnerte sie an die Notwendigkeit, einen Knaben mit dem Kriegshandwerk vertraut zu machen“, sagte nachdenklich der Graf von Zollern, „da erhob sie keck die Hand und gab zurück: ‚Mein Sohn wird nie in eine Schlacht reiten, denn er wird weise jede Herausforderung mit seinem Verstand zu lösen wissen!‘ – Diese Frau ist doch kein Umgang für einen jungen Herrscher, auch wenn sie seine Mutter ist!“

So ging es fort, bis ein jeder seine Beschwerden aufgezählt hatte. Als auch der letzte zum Ende gekommen war, nahm Gunther die Hände zusammen und nickte bedächtig.

„Herr, erlaubt Ihr, dass ich das Wort ergreife?“, fragte Hagen ehrfürchtig, damit alle sahen, dass selbst der Bezwinger Etzels seinem Herrn hingebungsvolle Untertanentreue schuldig war.

„Jederzeit, Herzog.“

Hagen erhob sich schwungvoll. „Ich halte Schwabens Nöte für sehr bedrohlich“, sagte er scharf. „Es geht nicht an, dass ein ganzes Reich dem Willen einer Frau ausgeliefert ist. Widersetzt sich die Herzogswitwe der Führung durch Klügere, versündigt sie sich an ihren Fürsten und an ihrem Sohn, dem sie das Privileg, zu einem echten Mann heranzuwachsen, vorenthält. – Ihre Anhänger und Apologeten freilich preisen ihre Mutterliebe, die alle durchtriebenen Pläne mit dem Goldglanz ‚bester Absichten‘ überzieht – doch ist eine Mutter, die ihr Kind vor der Welt abschirmt und in seinem Namen ein Reich zu beherrschen gedenkt, noch eine Mutter? Ist Ihr Sohn noch Sohn? Ist er nicht vielmehr Geisel?“

Hier unterbrachen ihn frenetische Zwischenrufe der Fürsten.

„Was wäre nötiger, als den Herzog dem Zugriff der Witwe zu entziehen?“, fuhr er fort. „Euer Heer ist bereit, seine Waffen sind scharf – allein Schwabens Nachbarn sind nicht alle freundlich gesinnt wie das Reich meines Herrn. Ein Bürgerkrieg, und wäret Ihr auch noch so siegreich, brächte Schwaben eine Wunde bei, an der es schließlich zugrunde gehen könnte. Die fruchtreichen Gefilde dieses Landes mit seinen tüchtigen Bauern erwecken manche Begehrlichkeit. Schwaben, zerrissen wie es jetzt ist, oder geschwächt, wie es nach dem Krieg sein wird, liegt zwischen den Schwertern der Franzosen und den Äxten der Bayern.“

„Doch Burgund wird uns beistehen?“, rief man aufgeregt

Hagen warf Gunther einen bedeutungsvollen Blick zu. Der neigte sich bescheiden im Angesicht des schwäbischen Vertrauens. „Burgund will nicht mitansehen, wie sein meistgeschätzter Nachbar zur Beute fremder Bestrebungen wird – noch wie sein Nachbar sich in innerlichen Kämpfen zerfleischt.“

„Der junge Herzog braucht, dessen sind wir uns alle einig, die Führung bewährter Männer“, sagte Hagen. „Was Schwaben nicht braucht, ist ein Bürgerkrieg. Nun verläuft der Zwiespalt mitten durch Euer Land; die Hälfte des Adels vereinigt die Herzogin auf sich, die andere Hälfte steht zu Euch. Wir sind uns darin einig, dass das vorrangige Ziel aller aufrechten Männer sein sollte, die Weiberherrschaft zu beenden und den Knaben in die Obhut von Fürsten zu geben, die ihn zum weisen Herrscher und furchtlosen Krieger heranbilden, damit er in acht Jahren Euer Land lenke mit segenbringender Hand. Nun könnte man ihn – wenn ich es wagen darf, einen Vorschlag zu machen – von beiden Parteien abwechselnd erziehen lassen, ein halbes Jahr bei den Leuten der Witwe, ein halbes Jahr bei Euch.“

Schon wollte sich Widerstand regen, da hob er die Hand. „Man könnte ihn jedoch auch in die Obhut einer dritten Partei geben, der es ein inniges Anliegen ist, Schwabens Handlungsfähigkeit und Macht auf Jahrzehnte hin zu sichern. So wie Schwaben einen fähigen, nicht verweichlichten Herzog braucht, der es führen kann in Frieden und Krieg, strebt Burgund danach, Schwaben stark und einig zu halten, sodass es sicher sein kann, dass von Süden nicht Gefahr heraufzieht.“

Gunther erhob sich. „Es ist ein Wunsch, der mir aus Herzenstiefen kommt“, sprach er sanft. „Wie der Patenonkel das Kind zu sich nimmt, wenn es die Eltern in Gefahr sehen, so will ich Eurem Herrn eine Heimstatt bieten. Es soll ihm an nichts mangeln; die besten Lehrmeister geb ich ihm: Bischöfe werden ihn unterweisen im Glauben, von den Fürsten lerne er zu wirtschaften, von mir den Umgang mit fremden Boten, vom Sieger über den Hunnenkönig das Kämpfen. Wann immer Ihr Euch vom Fortschritt seiner Lehren überzeugen wollt, seid Ihr mir auf das herzlichste willkommen, und wünscht Ihr, dass er tiefer eingeführt werde in die Besonderheiten Eures Landes, dann nehme ich gerne die von Euch bestimmten Lehrer bei mir auf. Es wär mir eine Ehre, Eurem Herzog Gastgeber zu sein.“

Oh, hervorragend machte er das! Mit größter Selbstlosigkeit bot er ihnen das Füllhorn seiner Güte an – nun war es an ihnen es anzunehmen.

Die Schwaben zögerten noch.

„Und was schlagt ihr vor, wie wir mit dem Weib verfahren sollen?“, fragte der Graf von Zollern. Sein Blick galt dabei nicht dem König, sondern Hagen. Unerhört, dass man seinen König überging! Deshalb richtete er die Antwort mehr an Gunther als an die Schwaben. „Würde die Herzogswitwe aufhören, Aufruhr zu verursachen, bis sie ihren Sohn wiederhat? Das bezweifle ich sehr. Für sie gilt wie für jedes Weib: Um ihren Ehrgeiz zu bändigen, muss man sie glauben lassen, gewonnen zu haben. Mein Herr ist bereit, sie in Worms aufzunehmen, wo der Pracht und Prunk einer glänzenden Metropolis sie bald von allen machtgierigen Plänen ablenken werden.“

Gunther nahm demütig die Hände vor der Brust zusammen und ließ den Blick über die versammelten Fürsten schweifen. „Das ist mein Vorschlag, liebe Schwaben, und sprecht Ihr Euer Ja, so strebt fortan ganz Burgund danach, Eurem Herzog die treueste Stütze zu sein.“

Wie Hagen es geplant hatte, nahmen die Schwaben das Füllhorn von Gunthers Güte eifrig an.

Neuer Abschnitt ab hier:

Am Abend besuchten sie die Herzogin in ihrem Zelt. Hier saß sie zwischen den kostbaren Geschenken, den unbedarften Sohn spielend zu ihren Füßen, und ließ sich von einer Zofe kämmen. „Ach, wie ehrt es mich, dass Ihr mich aufsucht!“, rief sie entzückt, „aber vergebt mir, dass ich in diesem unwürdigen Zustand vor Euch sitze – hätt’ ich von Eurem Kommen gewusst, hätte ich mich herausgeputzt für Euch.“

Gunther versicherte ihr gnädig, dass sie an ihrem offenhaarigen Zustand keinen Anstoß nahmen.

Die Herzogin bot ihnen einen Stuhl an; Hagen zog es freilich vor, finster hinter seinem Herrn stehenzubleiben. Die Herzogin verwickelte Gunther zunächst in einen Monolog über ihr bedauernswertes Los als Witwe und Mutter, bis selbst Gunthers Geduld zur Neige ging.

„Ich bewundere die Duldsamkeit, mit der Ihr Euer Los bisher getragen habt. Darum ist es mir eine umso schönere Freude, Euch einen Vorschlag zu unterbreiten, der Euer Leiden, wie ich hoffe, mit dem Kranz der Belohnung schmücken darf.“

Die Herzogin blinzelte überrascht. „Eure Güte ist weit wie der Ozean/Bodensee, lieber König.“

„Hört mich erst an, ehe Ihr urteilt. Ich hoffe sehr, dass mein Vorschlag Euer Wohlgefallen findet.“ Also wirklich, so sehr brauchte er nicht zu schmeicheln!

Gunther legte ihr draufhin alle Vorteile eines Aufenthalts am Wormser Hof dar. Als die Herzogin wichtigtuerisch erwiderte, sie brauche noch Bedenkzeit – oh, Hagen sah genau, dass sie schon gewonnen war, und nur seinen König warten lassen wollte – beugte sich Gunther kurzerhand zum Herzogsknaben hinab und fragte ihn im unschuldigsten Tonfall, ob er einmal Worms sehen wolle. Ha, da stutzte die Herzogin! Der kleine Junge gab sich ganz begeistert; drum bedachte Gunther die Herzogin mit einem Blick, als könne er auch nichts mehr dagegen unternehmen, der Wille des Knaben sei bindend.

„Nun gut, Ihr habt ja recht“, sagte die Herzogin – ein strahlendes Lächeln begleitete ihre Worte – „in Worms wird er beschützt sein vor allen, die ihm Böses wollen, und ich bin endlich gerettet vor den Anfechtungen meiner Feinde. Ihr seid ein edler Mann, König Gunther.“

Und so kam es, dass der Erbe des Schwabenlandes an den Hof nach Worms kam, wo er zu einem Freund und Bündnispartner Burgunds erzogen würde – und die Herzogin von Schwaben wie auch ihre feindlichen Fürsten glaubten jeweils, sie hätten gewonnen und die Widersacher überlistet.

Neuer Abschnitt ab hier:

Am nächsten Tag versammelten sich die Burgunden und die Schwaben beider Parteien auf freiem Feld. Mit hallender Stimme, hörbar auch für die niedrigsten Ritter in hinterster Reihe, trug ein Herold das Angebot des Königs vor. Die Männer der Herzogin wie auch ihre Feinde bezeugten ihre Zustimmung mit lauter Akklamation. Mit Umarmen und Küssen wurde die Versöhnung gefestigt vor aller Augen, und die Freude der Schwaben erreichte einen ungeahnten Höhepunkt, als Gunther einen feurigen Apfelschimmel heranführen ließ, mit Sattel und Zaumzeug aus rotglänzendem Leder, und ihn als Unterpfand seiner Freundschaft dem jungen Herzog übergab. Wohlberechnet war die Geste: Um ein solches Tier zu reiten, musste man die Verwegenheit eines Mannes besitzen. Die Fürsten konnten beruhigt sein – ihr junger Herr würde in Burgund recht geformt werden.

In Gunthers Zelt wurde die Urkunde verlesen, dem Anlass gemäß nicht von einem bloßen Herold, sondern von Burgunds erstem Vasallen. Die Vormundschaft über den jungen Herzog erhielten die schwäbischen Großen, seine Mutter und der König von Burgund. Was gesamtschwäbische Angelegenheiten betraf, sollte von allen Parteien gemeinsam entschieden werden. Gunther befahl, die Urkunde reihum gehen zu lassen, damit jeder sich vergewissern könne, dass alles wie vorgetragen festgehalten war. Mancher Fürst las die Zeilen wachsam durch, ehe er das Pergament zufrieden weiterreichte; mancher andere heuchelte Alphabetismus, ließ den Blick mit überdosierter Hingabe kreuz und quer über das Schriftstück wischen, ehe er es, für gut befunden, mit Kennermiene an den nächsten weitergab.

„So wollen wir unterzeichnen“, sprach Gunther. Ein Knappe tauchte den Schwanenkiel in die Eisengallustinte; sein Herr unterzeichnete mit dem Schwung der wohlgeübten Hand.

Die Herzogswitwe war die nächste, drauf der Bischof von Konstanz und die anderen Geistlichen, alsdann Hagen, danach setzten immer im Wechsel Burgunden und Schwaben Unterschrift oder Handzeichen darunter. Es entging Hagen nicht, dass eine beträchtliche Anzahl Schwaben beider Parteien mit verstohlenem Lächeln vom Tisch zurücktrat, wie der durchtriebene Geschäftsmann, der seinen Kunden hochvergnügt von dannen ziehen sieht: übertölpelt, doch überzeugt, er habe das beste Angebot erhascht.

Zuletzt zog Gunther den wuchtigen Siegelring vom Zeigefinger und presste sein Wappen ins flüssige Wachs.

Es war alles so ergangen, wie Hagen es ersonnen hatte. Ehre und Macht für Gunther und Burgund!

Als das Siegel trocken war, hielt Gunther die Urkunde dem Bischof von Konstanz hin: „Bitte, lieber Vater, bekräftigt diese weltlichen Bande mit dem Kitt eures Segens.“

Der Bischof sprach ein paar würdige Worte, während die Fürsten zuhörten mit gesenktem Haupt.

Beim anschließenden Festmahl – auf Kosten des Königs von Burgund natürlich – mischten sich die Schwaben mit den Rheinischen, und als die Speisen verzehrt waren, stand man noch in losen Scharen scherzend und lachend beisammen. Hagen ging lautlos von der einen Gruppe zur anderen, hörte aufmerksam zu und erforschte behutsam die Stimmung.

„Ein Glück, dass unser Bub nun doch noch in den Genuss einer richtigen Erziehung gelangt“, sagte ein Schwabenritter mit unverhohlenem Siegerstolz. „Ich sag’s Euch, die Herzogin haben wir überlistet!“

„Sie wird heulen, wenn der Junge zum ersten Mal ins Turnier reitet! Sie hat ein Mäuschen aus ihm machen wollen, und nun wird er zum Helden!“

Ich sag’s Euch – in acht Jahren wird uns die Herzogin alle verfluchen!“

Ein Graf bemerkte Hagen und hob den Weinkelch zum Gruß. Die andern wandten sich um, überboten sich mit Lobesworten für seinen Herrn, dessen Reich und ihn selber. Er nahm es mit Dank entgegen, und fügte hinzu, dass er schon voller Vorfreude der ersten Fechtlehrstunde mit dem jungen Herzog entgegensehe. Dann schritt er weiter, immer wachsam.

Markgraf Eckewart unterhielt sich mit einer Handvoll Anhängern der Witwe.

„Seid unbesorgt, die Unterweisung in Geistesdingen wird nicht zu kurz kommen. Ihr braucht nur den König anzusehn: Er ist der Schild des Friedens und die Zuflucht der Verfolgten; die kalte Stimme der Schwerter lässt er nur sprechen, wenn seine Gegner den Segen von Rat und Weisheit mit Flüchen entgelten.“

„Gepriesen sei Euer Herr, dass er unseren Herrscher aus den Klauen der Eiferer entrissen hat.“

Der Bischof von Konstanz sprach heftig: „Keiner von ihnen dachte ans Wohl des Landes; sie wollten nur das Kind an sich raffen, um in seinem Namen uns das Joch ihres Willens aufzuzwingen.“

„Gründlich misslang der schmähliche Plan!“, rief ein Ritter und hob stolz den Kelch.

Gerade wollte Hagen zu ihnen treten, als einer der schwäbischen Grafen dem braven Eckewart bedeutete, sich herabzubeugen, und raunte – Hagen konnte es nur mit Mühe verstehen – „Ist es wahr, dass der neue Tronjeherzog für Euren König gar noch unverzichtbarer ist, als es der alte für König Gibich war?“

Eckewart nahm sich einen Augenblick Bedenkzeit. „König Gunther gönnt jedem seiner Männer Gehör, doch schließt sich stets dem klügsten Rat an. Ihr seht, dass Burgunds einstige Geisel jede Kiste Tribut wert war.“

Wie ehrenwert von Eckewart! Hagen würde sich nachher dafür bedanken. Der Speyerer war ein Mann, der vorrangig an den König dachte, nicht an eigene Befindlichkeiten wie die Neider und Zwietrachtsäer.

Unbemerkt entfernte er sich wieder. Die Macht seines Königs war ohne einen Streich um ein Drittel gewachsen, das Nachbarland war befriedet, und Schwabens Herzog würden sie so geschickt zu erziehen wissen, dass er noch jahrzehntelang zu Gunther aufsehen würde wie der Vasall zu seinem Herrn. – So ähnlich musste sich ein Meister fühlen, ein Bildhauer oder Schwertschmied, im Angesicht des vollendeten Werks.

Am nächsten Morgen, als bis auf die Amseln noch kein Vogel wach war und die Donau noch unter weißen Schleiern träumte, nahmen die Schwabenfürsten ihren Abschied vom jungen Herzog. Es neigte sich jeder vor ihm, und keine geringe Zahl flocht in die Segenswünsche des Auseinandergehens noch die Mahnung ein, sich in der Fremde gut zu betragen und die Weisungen seiner Gastgeber fleißig zu befolgen. Gunther geleitete die Fürsten bis ins Tal hinab. Nachdem die Schwaben aufgebrochen waren, verharrte er eine Weile und blickte ergriffen ins Land hinaus. Hagen ließ Totenwache näher treten.

„Ihr habt Eurem Namen reichen Ruhm gewonnen, König von Burgund – und Schutzherr von Schwaben.“ Kein Becher Wein hatte ihn je so berauscht wie der Ambrosiageschmack des Erfolgs.

Gunther blickte auf den Pferdehals, selbst im Sieg noch unsicher, ob er den Lorbeer wirklich annehmen durfte. Dann bedachte er Hagen mit einem weichherzigen Lächeln. „Wir wissen beide, wessen Beitrag der weit größere war, und wem ich Dank schulde. Freilich bin ich ratlos, wie ich mich dafür erkenntlich zeigen soll, lieber Herzog. Ich kann Euch weder ein Lehen noch meine Treue versprechen, denn beides gehört Euch schon. So müsst ihr Euch wohl damit abfinden, dass ich von den Schwaben eines bereits gründlich gelernt habe: die Sparsamkeit hochzuhalten.“ Seine Miene wurde wieder nachdenklich. „Der Machtzuwachs erfüllt mich mit Stolz, natürlich – aber weißt du, mehr noch freut es mich, einen Krieg verhindert zu haben. Dass Burgund als Friedensstifter in die Chroniken eingeht – unter meinem Vater wäre das nie geschehen. Danke, mein Freund. Ich glaube, dass Burgund einer glänzenden Zukunft entgegengeht.“

Anmerkungen:

Der ranghöchste Fürst hält dem Herrscher den Steigbügel: Ob auch Geistliche das Privileg/die Pflicht des Steigbügelhalterdienstes übernommen haben, weiß ich nicht. Sollte ich noch etwas dazu finden, werde ich es hier hoffentlich einarbeiten.

„darum konnte Hagen sich erleichert zurücknehmen mit dem Säuseln süßer Floskeln“: Dies soll nicht heißen, dass Hagen hier Gunthers Verhalten herabwürdigt als „Säuseln süßer Floskeln“, was seinem König gegenüber ziemlich unfreundlich wäre, sondern bezieht sich auf Hagens eigene Haltung gegenüber der Herzogin. Da er kein echtes Mitgefühl verspürt, wäre es bei ihm nur Heuchelei. Vielleicht fällt mir noch eine andere Formulierung ein.

„War man mit sieben so klein?“ und „Die Herzogin war gerade noch jung zu nennen, vielleicht fünfundzwanzig“: Dies soll nicht den langlebigen Irrglauben unterstützen, dass man „früher“, also in Zeiten mit geringerer Lebenserwartung, schon mit z. B. 30 als „alt“ galt – sondern soll illustrieren, wie jung die Figur des Hagen in dieser Geschichte ist. Dass 15-jährige Menschen noch nicht beurteilen können, wer wirklich alt ist, wissen alle, die nicht mehr 15 sind. Genauso können viele junge Leute, die mit Kindern nichts zu tun haben, auch kaum das Alter von Kindern richtig einordnen. Und als Funfact zum Schluss: Hildegard von Bingen schreibt in „Ursache und Entstehung der Krankheiten“, dass Frauen bis zum 50. Lebensjahre ihre Regel haben, manche sogar bis 70, und dass ab 70 dann die Runzeln und der Verfall kommen. Bei Männern sollen Runzeln und Verfall sogar erst ab 80 kommen.

„Das tu ich gerne, Herr.“ Im Epos ist „Daz tuon ich“ Hagens erstes Zitat.

„dass ein König, der vom eigenen Tross lebte in einem fremden Land, ein Muster an Anstand war“: Hier wird wirklich keine Gelegenheit ausgelassen, das Klischee der schwäbischen Sparsamkeit zu erwähnen.

Der junge Schwabe wird Gunther als Mündel übergeben: Dieser ganze Handlungsstrang wurde inspiriert von einer Begebenheit des Frühmittelalters: Damals herrschten die Welfen in Burgund (Rudolf I., Rudolf II., Konrad, Rudolf III.). In einer Phase der Wirren brachte Otto der Große den minderjährige Konrad in seine Obhut. Als König von Burgund war Konrad später ein verlässlicher Partner Ottos.

Die Anwesenheit von Zeugen bei der Ausstellung einer Urkunde war der Normalfall. Die Zeugen wurden nach Rang geordnet aufgeführt, Geistliche eventuell zuerst. Im deutschen Hochmittelalter konnten nicht viele weltliche Adlige lesen und schreiben. (In Frankreich waren ein höherer Anteil der Fürsten lesekundig.) Dass in dieser Szene der wichtigste Fürst (natürlich Hagen) die Urkunde verliest, ist jedoch nicht vom Mittelalter, sondern wieder einmal von Bismarck inspiriert. Er las die Kaiserproklamation vor (wenig salbungsvoll, da der Kaiser und er seit dem Vortag verstimmt waren).

Eisengallustinte: Für Eisengallustinte braucht man Galläpfel, das sind Äpfel von Bäumen, die von einem speziellen Schädling befallen sind. Auch heute noch kann man solche Tinten kaufen. Für mich wäre das allerdings nichts, ich mag keine trockenen Tinten, und Eisengallus ist enorm trocken. Diamine Oxford Blue ist die beste! (Not sponsored.) Neben der Eisengallustinte wurde im Mittelalter auch Dornentinte verwendet.

Der Prozess des Siegelns wurde nur erwähnt, weil ich einflechten wollte, dass man einen Siegelring am Zeigefinger oder am Daumen trug. Das steht in dem Ausstellungskataglog „Heinrich IV. Kaiser, Kämpfer, Gebannter“ des Rheinischen Museums Speyer, und hätte ich es dort nicht gelesen, wäre mir nie in den Sinn gekommen, zu recherchieren, an welchem Finger man einen Siegelring trug. So cool.

Es folgen noch ein paar Scherze über die Sparsamkeit der Schwaben, haha …

Der König von Burgund und der Bastard, Kapitel 3

Ihr seid nur alle Schachfiguren

Dieses Kapitel hat fast 5000 Wörter, also wieder ein langes. Es ist in mehrere Abschnitte gegliedert. Nach dem ersten Abschnitt findet ein Perspektivwechsel von Gunther auf Hagen statt.
Am Ende stehen wieder Anmerkungen.

Nach vier Tagen schon brachen sie auf. Ein Fünftel der burgundischen Ritterschaft zog mit ihnen ins Schwabenland. Das Heer war klein genug, um die Furcht fremder Fürsten vor burgundischer Übermacht zu zerstreuen, und groß genug, um bei einer Schlacht zwischen den Anhängern der Herzogin und ihren Widersachern Burgunds bevorzugter Partei den Sieg zu gewähren. Gernot und Onkel Godomar waren in Worms geblieben, um dort die Herrschaft auszuüben.

Den Boten hatte Gunther schon vorausgeschickt; auf diesen Eilritt konnte der Mann seine Gattin jedoch nicht mitnehmen. Sie durfte weiter am Rhein verweilen und sich des falschen Triumphs erfreuen, einen König in ihre Intrigennetze eingesponnen zu haben.

Meist ritt Gunther mit der Vorhut. Er trug Sorge, dass in jedem Dorf angehalten und den Bauern verkündet wurde, wer durch ihre Gefilde kam. Während der Herold mit geübter Stimme von Burgunds Freundschaft und Nachbartreue sprach, saß Gunther auf seinem ungeduldig scharrenden Fuchs und blickte in die Runde mit demütiger Verlegenheit, als wäre er fast schuldbewusst ob seiner Macht und Pracht. Seine Ritter umgaben ihn, kühn und nahbar, die Schützer von Armen, Witwen und Waisen; milde zu den Gutherzigen, unbarmherzig nur zu den Bösen. Den Frauen fiel es nicht schwer, sich an ihnen festzuschauen; sie sahen tagein, tagaus nur die braungebrannten, frühzeitig furchigen Gesichter ihrer bäuerlichen Männer, bückten sich den Rücken rund, um deren grobe Kleidung zu waschen, und konnten ihre Stimmen am Ende jedes Winters nicht mehr länger mitanhören. Darum war ihnen ein weißhäutiger Edelmann mit steinbesetztem Mantel und Bescheidenheit, die der Stärke entsprang, eine fesselnde Abwechslung. (Bis auf Hagen, dessen Stolz ihm gebot, mit dem lauernden Selbstbewusstsein eines Adlers auf die einfachen Leute herabzuspähen.)

Nachdem der Herold geendet hatte, wandte Gunther sich jedes Mal seinen Fürsten zu und sagte ruhig, doch wohl belauscht: „Wie bieder und fleißig diese Leute sind! Fünf Dörfer wie dieses sind ein Diadem, eine Zierde für ihren Herrn.“ Und an die Dörfler gerichtet: „Zum Angedenken an den seligen Herzog Burchard, der mich und mein Reich stets väterlich im Herzen trug, will ich euch Bauern ein Geschenk geben. Ich muss euch nicht raten: ‚Nutzt es klug‘, denn Bedachtsamkeit ist aller Schwaben Erbtugend. Nehmt es, spendet eurem Herzog ein paar fromme Gebete, und bleibt weiter brave Untertanen seines Sohnes.“

Er ließ sich einen Beutel mit Münzen reichen, legte ihn dem ältesten Greis des Dorfs in die Hand, und gab das Zeichen zum Aufbruch. Damit gewann er sich stets auch das Wohlwollen der schwäbischen Männer.

Im Abstand von ein, zwei Stunden folgte ihnen das Heer. Ein jeder musste genau auf den Wegen bleiben; keinen noch so winzigen Gerstentrieb sollten die Schwaben wegen burgundischer Hufe beklagen müssen.

Nach drei Tagen kehrten sie zum ersten Mal bei einem schwäbischen Adligen ein. Wie Gunther mit seinen Getreuen in den Hof ritt, stand der Graf schon bereit. Er begrüßte sie mit unverbindlicher Miene, hinter der jedoch jeder, der Menschen zu lesen wusste, den gequälten Unmut erkannte.

„Welch edle Gäste für mein bescheidenes Heim“, sprach der Graf, „hätt’ ich zuvor gewusst, dass ein König mir die Ehre seiner Anwesenheit gönnen wird, hätt’ ich Vorkehrungen getroffen, die Burg geschmückt, die Küche bestückt mit den vorzüglichsten Früchten des Landes – so aber steht mein Haus im schnöden Werktagskleid vor euch, die Späne der Arbeit belästigen Euren Blick, und meine Speisekammer hält kaum Bess’res als jede Bauernkate bereit. Ein geiziger Wirt muss ich sein, der doch allzu gerne der großzügige wär!“

Gunther nickte verständnisvoll. „Das weiß ich zu schätzen. Allerdings ist es nicht meine Absicht, Eure Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen; wir wollen heute noch einige Meilen zurücklegen und hielten nur an, um Euch unsern Gruß zu entbieten, wie es sich für die Landfremden gebührt.“

Die Sonne der Erleichterung erstrahlte auf dem Gesicht des Grafen. „Das ist ja schade!“, entrang sich ihm wie ein Stoßseufzer; versöhnt fügte er hinzu: „Wenn das so ist, will ich Euch doch wenigstens zu einem Becher Bier einladen, denn schließlich kann ich einen König und sein Gefolge nicht ohne Labung wieder fortschicken wie einen Bettler.“

Gunther hob die Rechte nur ganz leicht, und Hagen neben ihm ließ die Empörung wieder verglimmen. Man braucht nicht jedes Wort eines Provinzgrafen auf die Goldwaage zu legen.

„Das Angebot nehm ich gerne an“, sprach Gunther, „unter der Bedingung, dass Euer Gesinde sich nicht so viele Umstände mit uns mache. In einer halben Stunde wollen wir wieder aufbrechen.“

Das hörte der Schwabe gerne. Emsig trugen die Knechte zwei zusätzliche Tische in den Saal der Burg, und in staunenswert kurzer Zeit war schon jedem ein Becher Bier gereicht. Auch die Hausherrin und ihre Tochter waren herbeigerufen worden und saßen bei den Gästen.

Ein Rossknecht, der sich eilends ein neues Gewand übergezogen hatte, musste die Gesellschaft mit Musik erfreuen, denn er sei von seinen Leuten der einzige mit einer annehmbaren Stimme, und – das sagte der Graf mit übertriebenem Bedauern – fahrendes Volk suche ihn ja allzu selten auf. Nun trällerte der Junge im Hintergrund die immer selbe Strophe eines Lieds über schwäbische Straßen; er glich dabei einem eingesperrten Vogel, der um alles in der Welt entfliehen wollte.

Nach einer Weile erhob sich Volker von Alzey, näherte sich tänzerisch der Gräfin und ihrer Tochter und verbeugte sich vor ihnen. „Erlauben die Schöngeister der Burg, dass ich als Spielmann ihnen ein Lied widmen darf?“

Die Grafentochter beantwortete sein Blinzeln mit schüchternem Kichern; die Gräfin rief: „Ich bitte darum!“

Volker trat zum tapferen Rossknecht, wartete höflich, bis er seine Strophe beendet hatte, und raunte ihm dann den erlösenden Wunsch der Gräfin zu. Von seinem Knappen ließ er sich die Fiedel reichen, spielte die Weise einmal vor, und hub dann an zu singen von einer zarten Nachtigall und ihrem Feind, dem Raben.

Atemlos lauschten die Frauen. Der Graf blickte liebevoll zu Gattin und Tochter hinüber. „Wie bin ich froh, dass mein Mädchen noch unter uns Lebenden weilt“, raunte er Gunther zu. „Sie wäre letztes Jahr beinahe einer Lungenentzündung erlegen, das arme Kind!“ Seine barschen Züge wurden weicher.

„Ich nehme an, dass die Genesung langwierig und mühselig war?“, fragte Gunther.

„Gott sei mein Zeuge“, seufzte der Schwabe, „sie ist bis heute noch nicht ganz wiederhergestellt.“

„Mein Herr – und seine Mutter, die verehrte Königswitwe – sind wohlbewandert auf dem Feld der Heilkunde“, sagte Hagen. „Sie wissen bestimmt ein Mittel zur Abhilfe. Nicht wahr, mein König?“

„Da wär ich Euch von Herzen dankbar!“, sprach nun auch die Gräfin, die wie alle Frauen zwei Dingen zugleich lauschen konnte, „ja, ergeben wär ich euch mehr als unserm Herzog, dem alten wie dem Jungen!“

Dem armen Kind musste unbedingt geholfen werden! Gunther schickte sogleich seinen Knappen, dass er von einem der Packpferde die Schatulle mit den Arzneien hole. Mit dem Schlüssel – er trug ihn, seit sie losgezogen waren, stets bei sich; hatte er doch in seinem Leben schon oft genug erfahren, dass man ihm unbemerkt böse Substanzen untermischen wollte – öffnete er sie behutsam. Es waren zwei Dutzend tönerne Tiegel darin, mit Salben oder Pulver für alle Gebrechen, die einen auf der Reise befallen könnten: gegen Fieber und Kopfschmerzen, gegen Muskelschmerzen, Kraftlosigkeit, und vieles mehr. Manche hatte Mutter gemischt, manche hatte er selber in nächtlicher Stunde bedachtsam hergestellt. Er wählte drei aus, die helfen sollten, so viel es die Kraft der Pflanzen vermochte, und erklärte der Gräfin, wie sie einzunehmen seien und welche Gebete dabei besonders hilfreich waren.

Als sie im Hof wieder Abschied nahmen, floss die Gräfin vor Tränen über; der Graf umarmte ihn dreimal und beteuerte, er sei zwar Schwabe von Abstammung und Lehnseid her, aber seine Treue gehöre nun auf ewig dem König von Burgund.

Neuer Abschnitt ab hier:

Nichts gab größeren Triumph, als die Ordnung der Welt zurechtgerückt zu sehen. Hagen von Tronje war fortan der zweitmächtigste Mann des Reiches. Die einstige Geisel hatte sich erhoben aus dem Staub der Hunnensteppen, aus weisen Lehrstunden zur Führung eines Landes, aus dreiundzwanzig Schlachten und Jahren voller Bitterkeit.

Am Tag seiner Belehnung hatte alles Leid einen Sinn erhalten, denn jede Stunde Elend war notwendig gewesen, um ihn in Form zu gießen, alle Qualen hatten ihn gestählt – der Schmerz hatte ihn zu dem gemacht, der er sein sollte: der beste Diener für seinen König.

Sein König mit der Taubenseele brauchte einen Beschützer. Gunthers schwankende Klugheit, die jede Entscheidung schreckte, brauchte einen Mann, der ihm die Verantwortung abnahm. So wie man das Herz nicht ohne Rüstung den Feindesklingen entgegenreckte, sondern es hinter einem Schild verbarg, so brauchte Burgunds sanfter König einen Kämpfer, der ihn vor den Angriffen schirmte, der Gefahren, Vorwürfe und alle Hässlichkeiten der Herrschaft auffing wie der Schild die feindlichen Pfeile.

Die Pferde trabten zügig über die Straßen hin. Er erlaubte sich ein kurzes Lächeln, als keiner hersah. Die Macht gefiel ihm, schmeckte süß wie Rheinwein und passte ihm wie ein maßgeschneidertes Gewand. Wenn seinen Befehlen Gehorsam folgte, eilfertig und rasch wie der Bergbach dem Hang; wenn seine Missbilligung gefürchtet war wie das Anathema; wenn die Bewunderung der Braven, die Furcht der Feigen, der Gram der Neider und die ratsuchenden Bitten seines geliebten Herrn ihn allesamt umgaben, dann stand er stolz und genoss Ansehen wie Feindschaft gleichermaßen, waren doch beide die Insignien der Fähigen. Manchmal stellte er sich vor, wie es wäre, wenn die Dinge anders verlaufen wären, sodass statt seiner nun Dankwart an Gunthers Seite stünde, oder sonst jemand, jeder, nur nicht Hagen: Da fühlte er die Welt wieder aus den Fugen springen. Es war gut und richtig, dass er der Herzog war, und  – das war ihm wohl bewusst – für einen König Gernot oder Gibich wär er nicht der richtige. Er hätte ihnen auch nicht dienen wollen. Sein Herr hieß Gunther, in vita et in morte.

Vor ihnen erhob sich die Schwäbische Alb. Es ragten keine steilen Gipfel empor, nur waldige Höhen reihten sich aneinander in grüner Kette. Sie hatten bisher fünf Grafen getroffen, jedem von ihnen den Aufwand und die Kosten einer Übernachtung erspart und alle in freundlicher Gesinnung zurückgelassen.

Auf einem Bergsporn erhob sich die nächste Burg, beschützt von einer Buckelquadermauer und einem Graben an der einzig zugänglichen Seite. Der Turm jedoch war arg beschädigt, und Hagen glaubte sogar ein Gerüst zum Wiederaufbau an einer Seite auszumachen. Die Kuppe des gegenüberliegenden Bergsporns war kahlgehauen und zerfurcht. Schanzen zeigten an, wo die feindliche Blide gestanden hatte.

Der schwäbische Graf empfing sie mit soviel Herzlichkeit, wie ihm bei seinem offenbar grimmen Temperament möglich war. Auf die Fragen seiner Gäste hin schilderte er bereitwillig, wie er den Belagerer getrotzt hatte bis zum Eintreffen von Entsatz. In der Schlacht, die daraufhin entbrannte, hatte er fünf Feinde überwältigt. „Was aber nützt mir nun der Ruhm? Er baut ja meinen Turm nicht wieder auf!“

Der Graf war allerdings gastlicher als sein Nachbar im Norden: Er bot dem burgundischen Gefolge statt Bier immerhin Wein an. Dann bat er Gunther und Hagen auf ein kurzes Gespräch in seine Kammer.

„Herr vom Rhein“, sprach er, als sie Platz nahmen, „Ihr wollt also entscheiden, welcher Partei der junge Herzog zur Erziehung übergeben werden soll?“

Gunther erwiderte mit sanfter Miene, dass er keineswegs zu entscheiden kam, sondern zu raten und zu vermitteln. Hagen betrachtete derweil die harten Züge des Grafen, die Schwerter an der Wand hinter ihm und die zerhauenen Schilde.

Der Graf lehnte sich vor und senkte die Stimme. „Ich hoffe doch, dass Eure Vermittlung der richtigen Partei zum Sieg verhilft. Es geht um Schwabens Zukunft, ob sie leuchte oder dahinwelke.“ Er verstummte, harrte einer Antwort mit wölfischem Lauern.

„Dessen könnt Ihr gewiss sein: dass der König von Burgund stets das Richtige entscheidet“, sagte Hagen.

Der Graf lehnte sich zurück, unzufrieden ob der nichtssagenden Antwort. Hagen würde ihn aber schon für Burgund gewinnen. „Ihr habt in vielen Schlachten gefochten?“, fragte er den Graf.

„In acht.“

Hagen hob anerkennend seinen Becher. „Der Krieg ist der größte aller Lehrmeister. Ich würde keine einzige meiner Schlachten verpasst haben wollen. Man wird doch erst im Angesicht des Feinds zum Mann.“

Das erfüllte den Grafen mit Lebhaftigkeit. „So ist’s! Wer nicht ein Schlachtfeld getränkt hat mit fremdem Blut und mit dem eig’nen, der kennt das Leben nicht, ist einfältig wie ein Lamm.“

„Ich kenne keinen Träumer und Taugenichts, den blanker Stahl nicht zurechtgeschliffen hätte“, sagte Gunther.

„Eben!“, rief der Schwabe aufgeregt und schlug auf den Tisch, „und da soll unser armes Schwabenland die nächsten acht Jahre von einem Weib geführt werden?“

Hagen hob den Zeigefinger mit Schwung und rief, sich derselben Emphase wie der Graf bedienend: „Mag ihre Hingabe an Sohn und Land auch untadelig sein – sie bleibt doch unerfahren, unwissend und waffenlos. Weiber können, das gestehe ich ihnen zu, Listen ersinnen, sich mit Tücke Vorteile und Verteidiger gewinnen, Verbündete heranlocken und Kriege entfesseln, aber die Härte und Kühnheit eines Mannes geht ihnen ab, deshalb müssen sie zwangsläufig straucheln im Falle größter Gefahr.“

„Genau!“, fiel der Schwabe ein, „Ihr seht es ganz richtig, Herzog! Bei aller Verehrung für die Weiberschaft – sie haben an der Spitze eines Reiches nichts verloren! Was wäre mit uns, wenn ein Krieg ausbräche? Sollen wir auf Befehl einer Frau zu den Waffen stürmen, auf ihren Wink hin Frieden schließen?“

„Der Vater aller Dinge hat nur Söhne, keine Töchter“, sprach Gunther bedachtsam.

Der Schwabe kannte seinen Heraklit nicht und nickte umso eifriger, um es zu verbergen.

Hagen sagte: „Und wie soll aus dem jungen Herzog ein rechter Mann werden, wenn er allzeit weiblichem Einfluss ausgeliefert ist? Ein Knabe braucht die Führung ehrlicher Männer, sonst wird er verweichlicht und schwach, kaum stärker als seine Schwestern! Ich selber hab’s erfahren, im Hunnenland: Mich hemmte eine unselige Neigung zu Geistesdingen, ich war mehr der Feder als der Klinge zugetan, aber der Hunnenkönig hat mich in die Schlacht geführt – da begriff ich, was allein die großen Fragen der Welt entscheidet: Kühnheit und Selbstzucht, Mut und Eisen!“

Der Schwabe hielt nicht mehr an sich, hämmerte nun mit beiden Fäusten zugleich auf die Tischplatte. „Das sag ich auch, das sag ich immerzu! Der Junge gehört in die Hände von Männern, nicht in die weichlichen Mutterarme! Er soll uns einst als Kämpfer und Sieger vorangehen –“

„So wie mein Herzog dem Heer und dem Reich“, sagte Gunther nebenbei.

Der Graf schüttelte bekräftigend den Zeigefinger und rief: „Ganz recht! Er soll ein Mann sein, zu dem Männer aufblicken!“

Ihre Verabschiedung war weitaus wärmer als das Willkommen.

Wie der Graf Hagen die Hand gab, raunte er ihm zu: „Gute Reise! Mein Herz ist voll Vertrauen, dass Ihr die richtige Partei stützen werdet, und Schwaben wird’s Euch immer danken.“

Neuer Abschnitt ab hier:

Nach vier Tagen erreichten sie den Südrand der Alb. Auf einem Bergsporn schlugen sie das Lager auf. Unter ihnen schlängelte sich die Donau dahin, und gegen Süden erstreckte sich flaches Land, nur von kleinen Dörfern gesprenkelt, bis es mit dem Horizont verschmolz. Während die anderen noch die Aussicht lobten, ließ Hagen den Blick über den Bergvorsprung schweifen: Er war flach und bot genügend Platz für eine Siedlung. Kein Feind, und wäre er noch so kühn, würde es wagen, die steilen Hänge erstürmen zu wollen; nur von Norden aus war das Areal erreichbar. Sonderbar, dass hier niemand, nicht einmal die Altvorderen, eine Stadt gegründet hatte.

In den Abendstunden traf auch das Heer ein. Feuer wurden entfacht, Ochsen drehten sich am Spieß, Lieder wurden angestimmt. Volker beklagte bei jedem neuen Sänger dessen mangelndes Kunstverständnis, und wie Hagen schließlich schulterzuckend murmelte, für ihn klänge ohnehin alles einerlei, nannte Volker ihn einen Barbaren der Musik. Ja gut – was nicht falsch war, wollte er nicht leugnen.

Mit Gunther sann er eine Weile darüber nach, warum dieser Ort nie besiedelt worden war; Gunther sagte bedächtig, es müsse hier irgendwo das reiche Pyrene gelegen haben, ein mächtiges Handelszentrum, von dem selbst die Griechen berichtet hatten. Inzwischen waren aber alle Spuren längst verschwunden, und das Rätsel um seine Lage würde wohl nie gelöst.

Der nächste Morgen brachte dem Lager Unruhe und Aufruhr. Laute Stimmen rissen Hagen aus dem Schlaf: „Seht nur, seht!“, rief es von überall, und er verabscheute böse Überraschungen am frühen Morgen. Nicht einmal seine törichten Knappen waren da, nutzlose Dummköpfe. Er warf hastig das Gewand über, schnallte sich Schwert und Dolch um und eilte hinaus. Die ersten drei Männer, die er barsch fragte, was los sei, wussten von nichts, aber gingen unverdrossen den andern nach.

Er fluchte leise. Wie er das hasste, wenn er nicht Herr der Lage war! Dann folgte er zügigen Schrittes.

Am Rande des Abhangs drängten sich die Leute, deuteten aufs Land hinaus und schienen mehr ergriffen denn argwöhnisch.

Er trat neben Gunther. Der sagte mit seiner üblichen Sanftmut: „Einen guten Morgen, Herzog.“

„Sofern ein Morgen gut sein kann. – Was ist gescheh’n? Kommen die Schwaben?“

Gunther löste den Blick erst jetzt vom Horizont und schaute stattdessen Hagen an mit treuem Mitgefühl. „Gottes Schöpfung bewundern wir. Man sieht die Alpen.“

Ach so. Er kniff die Augen zusammen, konnte jedoch trotzdem nichts erkennen. Es musste an seiner verdammten blassen Haut liegen, dass er in der Ferne schlecht sah. Tausendmal hatte er das schon vermutet.

Gunther neigte sich leicht zu ihm. „Sie sind schneebedeckt, kühn zerklüftet und ziehen sich“, er vollführte eine Geste, die fast den ganzen Horizont vor ihnen umfasste, „von da bis dort.“

Das Heer einer der schwäbischen Parteien wäre Hagen lieber gewesen – dann hätte er mit seinen Intrigen fortfahren können. Gunther dagegen war von Ehrfurcht erfüllt. „Auf einmal ist die Welt klein geworden, hat mir das weite Land gezeigt, das sonst nur mutige Pilger kennen, ja, ich fühl mich wie ein wahrhaft willkommener Gast, für den man die schönsten Kostbarkeiten hervorgeholt hat! Und alle da unten scheinen wie meine Brüder und Schwestern, vereint unter Gottes Juwelenhimmel. Da, da glänzt ein See! Nicht einmal der? Oh. Weißt du, was ich noch denke? Es ist, als ob der Horizont uns einlädt, ihn zu besuchen. Die Fremde soll uns bekannt werden, die Ferne will uns begrüßen. Und hinter den Bergen, ach, mir ist’s, als wär ich fast schon dort: liegt das ewige Rom und der Papst!“

Eine Stunde später kehrten zwei vorausgeschickte Boten ins Lager zurück. Sie meldeten, dass die Herzogin und ihre Gegner nunmehr die Heerscharen versammelt hatten. Die Großen des Herzogtums waren bereit, ihren jungen Herrn mit Waffengewalt aus der Obhut der Mutter zu befreien; die Herzogin schien den Kampf jedoch zu scheuen und entwich den Bewegungen ihrer Feinde in weiten Zügen. Vor einigen Tagen hatte sie vor Ulm gelegen, hatte sich dann nach Süden aufgemacht und näherte sich nun schon Konstanz. Die Fürsten rückten von Altdorf heran.

„Sollen wir ihnen entgegenziehen?“, fragte Gunther besorgt. „Ich will nicht, dass sie doch noch eine Schlacht wagen. Ein schlechter Schlichter wär ich, wenn ich das zuließe.“

Ein paar der Fürsten nickten dazu. Hagen aber riet dagegen: „Das ist allzu unwahrscheinlich; da die Parteien gleich stark sind, wissen sie sehr wohl, dass Niederlage und Sieg beinahe dasselbe kosten müssten. Bleibt hier an diesem Ort, hoch über dem Streit in der Ebene, und wartet, dass sie zu Euch kommen. Denn mehr noch als Schlichter seid Ihr König und habt das noble Recht, ihre Ehrerbietung zu empfangen.“

Sein kluger Herr stimmte ihm daraufhin zu.

Eine Woche lang verweilten sie auf dem Bergsporn am Rande der Alb. Bald schon erfreuten sich nur noch die empfindsamen Gemüter, wenn bei klarer Luft die Alpen aus dem Horizont traten; den schnörkellosen Naturen war es rasch einerlei geworden. Die Sonnenuntergänge prangten jeden Abend verschwenderisch in allen Farben des Feuers, wie ein gefahrloses Abbild von Untergang und Vernichtung.

Nach sieben Tagen sah man das Heer der Herzogswitwe heranziehen. Zwei Boten hatte sie losgeschickt, um den Ablauf des Zusammentreffens abzusprechen. Die Boten verlangten schamlos, Gunther solle dem Weib fünf Schritte entgegengehen, und sie ihm genauso viele!

Volker von Alzey, dem die Planung des Begegnungszeremoniells oblag, wollte tatsächlich einwilligen!

Ein Glück, dass Hagen hinzugekommen war; nun konnte er diesen Unfug verhindern.

„Ich hoffe, mich verhört zu haben“, sagte er zu den Schwaben mit einem Tonfall, dessen übersanfte Freundlichkeit ihnen Falten der Verwirrung auf die Stirn trieb, „denn es geht nicht an, von einem König zu verlangen, dass er einer Herzogsgattin – einer verwitweten – dieselbe Ehre gönnt, wie sie ihm zu zollen geneigt ist. – Nein, das könnt Ihr nicht verlangt haben. Es muss mein Irrtum sein.“

Die Schwaben schwiegen, warfen einander unwillige Blicke zu und flehten wohl jeder insgeheim, dass der andere etwas zu erwidern wage.

„Sieben Schritte darf die Herzogin meinem Herrn entgegengehen, und er kommt ihr mit drei entgegen“, sagte Hagen großzügig.

Der Alzeyer stand neben ihm, blickte offenbar unbeteiligt zu Boden und konnte doch das verschmitzte Lächeln nicht verbergen.

Einer der Schwaben fasste Mut. „Mit Verlaub, und mit aller gebührenden Hochachtung für Euren König – aber sieben und drei sind nicht annehmbar für uns. Bedenkt, dass er als Vermittler zu uns kommt, nicht als ein Lehnsherr!“

„Bedenkt, dass mein Herr gesalbt und gekrönt ist, dazu schon in Schlacht und Zweikampf Sieger war. Es ist keine Herabsetzung Eurer Herrin, wenn ich verlange, dass Ihr dem König gebt, was ihm gebührt; es ist die Würdigung des Höherrangigen, die Euch obliegt und die Ihr verweigern wollt.“ Er zog einen Stuhl her und setzte sich, wobei er Wert darauf legte, dass sein kostbar besetztes Schwertheft nicht vom Faltenwurf des Umhangs verdeckt war. Er wies den Boten ebenfalls einen Platz an, auch Volker, und hieß Volkers Knappen, ihnen einzuschenken.

Die Boten murmelten ihren Dank; derjenige, der vorher geschwiegen hatte, schien jetzt nicht mehr zurückstehen zu wollen. Feigling sein war keine Zier. „Edler Herzog, doch drei und sieben – wisst Ihr, obwohl unsere Herrscher keine Könige waren, steht unser Land hinter dem Eures Herrn nicht weit zurück, ist nicht viel kleiner, und unsere Krieger sind ebenso kühn wie die von Burgund!“ Während der Stunden im Kronrat hatte Hagen erkannt, dass schon seine Reglosigkeit allein die Leute einschüchterte; wenn er dann noch mit dem Blinzeln aufhörte, seinen kalten Blick keinen Moment lang unterbrach, brachte das die Leute völlig in Verunsicherung. Er hatte schon die beredtesten Boten damit zum Stottern und Stammeln gebracht. Auch jetzt zeigte diese Angewohnheit Wirkung: Der Schwabe geriet in Aufregung, sah mit raschem, kleinem Kopfnicken zweimal zu seinem Gefährten hinüber, ob der ihm Hilfe geben könnte, und murmelte dann gepresst: „Doch Ihr seid selbstverständlich der allerkühnste, Herzog.“

Hagen verzog keine Miene, sondern nahm die Aussage mit der knappsten Verneigung zur Kenntnis. „Drei und sieben also, besten Dank“, sagte er. Er streckte die Hand aus. Der eine Bote lehnte sich vor, als schien es ihm geboten, einzuschlagen.

Volker sagte plötzlich: „Man darf natürlich nicht vergessen, dass die Herzogin unlängst den schlimmsten Schicksalsschlag im Leben einer Frau erlitten hat, den Verlust des Gatten.“ Was tat er da? Er sprach zu Gunsten der Schwaben? „Um sie in ihrem Leid zu ehren, ist unser guter König gern bereit, ihr einen weiteren Schritt entgegenzugehen.“ Warum zum Teufel glaubte Volker von Alzey entscheiden zu können, was Gunther bereit war zu tun? Für wen hielt er sich?

„Unser guter König hat aus Mitgefühl zehn Messen für den hingegangenen Herzog lesen lassen – im Dom St. Peter!“, fuhr Hagen auf. „Er braucht sein Beileid nicht zu beweisen, er tat schon genug – was Ihr, verehrte Boten, sicherlich zu schätzen wisst.“ Zu heftig, zu heftig! Milder fügte er hinzu: „Und selbstredend wird er bei der Begrüßung noch einmal in gütigen Worten seinem Bedauern Ausdruck verleihen. – Drei Schritte, dabei bleibt es.“

Ein gequälter Blick wechselte zwischen den Boten hin und her, gefolgt von einem kaum merklichen Nicken.

„Außerdem“, rief Volker und breitete die Arme über der Rückenlehne des Stuhls aus, „ist es in der heutigen Zeit die Freude eines jeden Ritters, den Damen seine Hochachtung zu zeigen. Unser König Gunther, ein Muster an Höfischheit, würde Eurer Herrin, wär er nicht selber Herrscher, gar liebenswürdig aus dem Sattel helfen; so aber offenbart sich seine Ritterlichkeit in den vier Schritten, die er der edlen Witwe entgegenkommt. Vier Schritte sind es, nehmt mein Wort.“

War er denn von Sinnen? Was sollten die Boten denken, he? Ja, Hagen spürte genau, dass sie die gebührende Ehrfurcht vor ihm ablegten; Oh, der Tronjer droht nur, doch er wagt nicht zu beißen, dachten sie gewiss! Törichter Volker! Was ritt ihn, dass er die Stimme des mächtigsten Fürsten untergraben wollte! – Hagen konnte nicht erneut widersprechen, sonst machte er sich zum Gespött. Retten, was zu retten war.

Er nahm sich zusammen, passte auf, dass seine Gesichtszüge nichts von seinem wahren Seelenzustand verrieten, und sagte streng: „Das ist eine der außergewöhnlichsten Eigenschaften meines Königs: Er räumt stets der Bescheidenheit den Vorrang vor der Tradition ein; so demütig trägt er die Krone, dass er die Ehren, die ihm zustehen gemäß Sitte und Ordnung, stets mild und huldvoll mit jenen teilt, deren Ehrung er entgegennehmen sollte. Vier Schritte von ihm, und sechs von der Herzogin.“

Die Boten nahmen draufhin eilends ihren Abschied. Sie befürchteten wohl, Hagen ändere seine Ansicht wieder? Das täte er allzu gern, allein der Alzeyer würde ihm erneut dazwischenfahren.

Volker geleitete die Boten hinaus. Kaum war er wieder eingetreten, warf Hagen die eisige Starre ab wie den schwergewordenen Schild nach der Schlacht. „Warum zum Teufel fallt Ihr mir in den Rücken, Graf? Wie Ihr mich vor den Fremden bloßgestellt habt, sollte ich Euch zum Gefecht herausfordern! Ihr könnt mit mir nicht derart verfahren – ich bin der Herzog!“

Volker zog es vor, erst zu schweigen. Er hob seine Hand mit dem gräflichen Siegelring und betrachtete sie.

Unerhört, unerhört! „Sprecht!“

„Oh weh, ich bin enttäuscht von Euch. – Kommt Ihr wahrlich nicht selber drauf, warum ich nicht emsig nickend Eure Forderung mit dem Lorbeer meines Beifalls bekränzte?“

„Nein, das kann ich mir nicht erklären.“

Volker nahm sich gar heraus, zu lachen. Für wen hielt er sich? Hagen ballte die Fäuste.

„Wisst Ihr, Herzog – schon seit zehn Jahren – da wart Ihr sechs, nicht wahr? Nein, fünf, fünf! Schon seit zehn Jahren obliegt mir die Pflicht, die Zusammentreffen des Königs mit anderen Herrschern im Verein mit deren Leuten zu planen, und meine Pflicht, die erfüllte ich allzeit zur Zufriedenheit meiner Herren. Doch auf einmal soll ich ahnungslos und tumb durch die Jahre gestapft sein, von keinem Gedanken je beschwert, ein Stümper reinster Sorte, und wär ohne die ungestüme Anleitung durch einen landfremden Jüngling hilflos verloren wie der Käfer auf dem Rücken? Nein, mein lieber Herzog, dem ist nicht so.“

„Und weil Ihr Euch von meiner Anwesenheit gekränkt saht, hieltet Ihr es für angemessen, Euren Trotz an unserem König auszulassen? Er ist’s, der nun einem Weib mehr Ehre angedeihen lassen muss, als ihr zukommt! Ein solches unwürdiges Verhalten hätt’ ich von Euch nicht –“

„Seine Ehre wird es verkraften“, sagte Volker. „Vier Schritte sind keine Zumutung; im Übrigen ließ er mir für alle Aufgaben des Zeremoniells völlig freie Hand. Noch vor seiner Krönung war das – also vor Eurer Zeit bei Hofe.“

Hagen hielt nicht länger an sich, die Wut musste heraus. „Aber vor den Boten habt Ihr mich gedemütigt! Als hätt’ ich’s nicht schon schwer genug mit meinem Alter und meiner Vergangenheit bei den Hunnen!“

Volker kam heran, klopfte gar seine Schulter, als wäre Hagen ein schäumender Gaul – verdammter Kerl – und sagte versöhnlich: „Aber ich trag’s Euch nicht nach, denn ich hege die Hoffnung, dass Ihr einsichtig seid. Ein and’rer freilich hätte Euch eine solche Einmischung nicht vergessen. Denn der Groll über den, der unsere angestammten Pflichten besser zu erfüllen meint als wir, wär unsterblich, wenn nicht die Menschen sterblich wären. Drum sag ich’s Euch im Guten: Ihr seid zwar Herzog und Etzels Bezwinger, klug und stur, mögt vieles besser machen als die meisten – doch wo die menschliche Eitelkeit Grenzen zieht, da könnt nicht einmal Ihr hindurchstürmen, ohne dass Ihr Euch zum ungerechten Angreifer macht. Denkt drüber nach, Ihr werdet sehn, ich habe Recht.“

Er wandte sich um und ging hinaus. Hagen stand eine Weile lang im Zelt und ärgerte sich. Als sich die erste Wut allmählich verzog wie Rauch, schienen ihm Volkers Mahnungen vielleicht halbwegs vernünftig.

Anmerkungen:

Das Lied über schwäbische Straßen, das der unglückliche Rossknecht immerzu singt, ist eine Anspielung an ein Lied, das auch Menschen aus dem Rest Deutschlands kennen: „Uff dr schwäb’sche Eisebahna“. Da es im Mittelalter selbstredend keine Eisenbahnen gab, habe ich das Wegenetz genommen. Im Eisenbahn-Lied kommt allerdings ein Tier zu Tode, und das ist sehr gemein!

Buckelquader: ganz typisch für hochmittelalterliche Burgen im deutschsprachigen Südwesten

Feindliche Blide: „die größte und präziseste unter den mittelalterlichen Belagerungsgeräten und eine Unterform des Katapults“ (Zitat Wikipedia, eingesehen am 24.12.2024)

Gespräch der Wormser mit dem martialischen Schwaben: Dass Gunthers Einwürfe praktisch substanzlos sind, nichts zum Gespräch beitragen und nur Zustimmung signalisieren, ist so beabsichtigt. Er überlässt Hagen die Gesprächsführung, da diesem das Aufwiegeln und Hetzen viel besser liegt. Der Schwabe ist konzipiert als ein typischer Choleriker, und die wollen ohnehin nur Gesprächspartner, die ihre Meinung teilen.

„für einen König Gernot oder Gibich wär er nicht der richtige. Er hätte ihnen auch nicht dienen wollen“: Ich bin mir noch unschlüssig, ob ich diesen Satz so lassen soll. Im Epos ist Hagen seinen drei Königen Gunther, Gernot und Giselher treu – dass er hier Gernot nicht dienen wollte, ist vielleicht ein zu großer Widerspruch; andererseits ist es für die Figur auch müßig, darüber nachzudenken. Es ist gut möglich, dass ich diesen Satz später noch ändere.

Bergsporn am Südrand der Schwäbischen Alb: Manche haben gewiss erkannt, dass ich hier deutlich auf die Heuneburg anspiele. Für diejenigen, die sie nicht kennen: Die Heuneburg war ein keltisches Machtzentrum. Die dortige Goldschmiedekunst lag auf höchstem Niveau; die weiß getünchte Lehmziegelmauer nach phönizischem Vorbild ist einmalig in Nordeuropa. Die Heuneburg gilt sogar als die älteste Stadt Mitteleuropas. Nach ihrer Zerstörung im Jahre 450 v. Chr. wurde sie nicht wiederaufgebaut. Sie wird heutzutage häufig als die vom griechischen Geschichtsschreiber Herodot erwähnte Stadt Pyrene identifiziert.

Ob Herodot im Hochmittelalter bekannt war, müsste ich nachschauen, ist aber für diese Szene egal, da ich der Anspielung halber Gunthers Kenntnisse über den antiken Chronisten voraussetze. Ob das Areal im Hochmittelalter bewaldet war und somit die Wormser daran gehindert hätte, hier ihr Lager aufzuschlagen, weiß ich auch nicht – aber darüber hätte ich mich ebenfalls hinweggesetzt.

Warum es mir so wichtig war, die Figuren gerade auf dem Areal der einstigen Keltensiedlung wirken zu lassen: Der Bergsporn mit der Ausgrabungsstätte, einem Freilichtmuseum und seiner großen ärchaologischen Bedeutung gehört zur Gemeinde Herbertingen-Hundersingen. Und wer lebt auch in Herbertingen?! Eure Lili Vogel!
Darum wollte ich die Wormser einfach mal „bei mir zuhause“ auftreten lassen.

Link zum Artikel über das Buch über die Keltenfürstin später hier einfügen

Der See, den Gunther als Teil der Sicht erwähnt, ist der Federsee.

Hinter den Bergen liegt das ewige Rom und der Papst: Der Burgunderkönig Sigismund reiste zweimal nach Rom und sprach mit dem Papst. Dies war noch zu Lebzeiten seines Vaters Gundobad, Sigismund hatte wie vor ihm sein Onkel Godegisel den Rang des nachgeordneten Königs inne. Er konvertierte noch zu Lebzeiten seines Vaters vom Arianismus zum Katholizismus, wahrscheinlich nach der ersten Rückkehr aus Rom daheim in Burgund.

(S. Avitus-Buch)

Die beiden Heere versuchen einander auszuweichen, dabei werden Konstanz, Ulm und Altdorf erwähnt: Dies ist vielleicht ein eigenwilliges Itinerar für die Bewegungen des herzoglichen und des fürstlichen Heers. Ich wollte jedoch die Städte erwähnen, die schon im Mittelalter von großer Bedeutung waren (und an denen ich selber auch gewesen bin. Ich kam nämlich sonst nicht viel herum in der Welt). Konstanz als Bischofsstadt (und im Spätmittelalter, wie jeder weiß, Konzilsort) und Ulm als Schauplatz zahlreicher Hoftage sind schöne Beispiele für schwäbische Zentralorte. Altdorf, das eng mit der Welfendynastie verbunden ist, nannte sich im 19. Jahrhundert in Weingarten um.

Abstimmung zwischen den beiden Herrschern über den Ablauf des Begegnungszeremoniells: Das habe ich mir nicht ausgedacht, das war wirklich so, die Zahl der Schritte inbegriffen. Im Mittelalter hatten Rituale den Zweck, Rechtsakte und wie hier Herrschertreffen nicht nur zu begleiten, sondern waren unverzichtbarer Bestandteil, um einem Rechtsakt, einer Königswahl usw. Legitimität zu verleihen. In der weitgehend schriftlosen Gesellschaft hatten die Rituale zur rechtsbezeugenden auch rechtserzeugende Wirkung. Dies ging so weit, dass ein falsch durchgeführtes Ritual (z. B. eine Krönung mit den richtigen Insignien, aber nicht am angestammten Krönungsort oder andersherum) dazu führen konnte, dass der gesamte Rechtsakt von bestimmten Parteien als nichtig angesehen wurde. Vgl. hierzu das großartige Buch „Rituale der Macht“ von Gerd Althoff, und für die Neuzeit das ebenso großartige Buch „Des Kaisers alte Kleider“ von Barbara Stollberg-Rilinger.

Dass Hagen behauptet, er habe sich verhört, da die Boten nicht in echt solch eine dreiste Forderung stellen könnten, ist inspiriert von einer Bismarck-Anekdote mit den Franzosen.

Den schlimmsten Schicksalsschlag im Leben einer Frau, den Tod des Gatten: Ich lasse hier nur das Patriarchat sprechen.

Höfischheit: Das mittelhochdeutsche hövescheit bezeichnet noch weit mehr als unser heutiges Wort Höflichkeit umfasst. Mit Hövescheit ist ein ganzes Geflecht von Tugenden und Verhaltensweisen abgedeckt, die zusammen den höfischen Lebensstil bilden sollen. Darin sind Heiterkeit enthalten und edle Sitten, usw.