Dieses Kapitel braucht noch einen Titel! Ich habe es übergangsweise „Ein ungleicher Kampf“ genannt, doch das ist nicht der Weisheit letzter Schluss.
Es hat 3000 Wörter, ist also mittellang. Nachdem wir den Schwaben-Handlungsstrang beendet haben, ist das folgende Kapitel zunächst eine Art Atempause. Es geht um Character Building und Atmosphäre. Allerdings wird darin auch die Grundlage für einen späteren Handlungsstrang gelegt. Würde Hagen wissen, welche Folgen sein Verhalten später für ihn haben wird, würde er vielleicht anders reagieren …
Nach 16.000 Wörtern, in denen noch kein Schwertstreich gefallen ist, kommt es jetzt zum ersten Mal in Worms-Buch 4 zu einem Kampf! Außerdem mögen wir es doch immer, wenn a) Hagen impulsiv handelt und b) wenn die beiden Hauptfiguren miteinander interagieren. Nachdem sie in den vergangenen Kapiteln harmonisch zusammen Ränke schmiedeten, gibt es hier einen Streit, bei dem Gunther zu 100 % im Recht ist und er Hagen gewaltig die Meinung sagt.
Jetzt geht’s los:
Unter Jubel und Lobpreis kehrten sie wieder nach Worms zurück. Gunther gab die Herzogin mit ritterlich verhohlener Erleichterung in die Obhut der Königsmutter Ute und ihrer Frauenschar; sie würden die Schwäbin mit dem vielfältigen Flitterkram des Weiberdaseins rasch von ihren Einmischungsversuchen in die Leitung des Herzogtums abbringen.
Sie wiesen dem Knaben die besten Lehrer zu, gaben ihm eine geräumige Kammer weit weg von seiner Mutter, und beschlossen, dass es ausreiche, sich alle fünf Tage über den Fortgang seiner Studien und das Gedeihen der Freundschaft zu seinem Gastgeberreich zu unterrichten.
Ein zweitägiges Fest bildete den glanzvollen Abschluss der Schwabenangelegenheit. Gunther bewies dabei eine Geduld, wie Hagen sie nur bewundern, nicht aber nachahmen konnte; er war die ewige Anwesenheit anderer und ihr endloses Gerede über Nichtigkeiten inzwischen völlig leid, und sehnte sich beinahe verzweifelt nach einigen Stunden Ruhe und Ungestörtheit. Am ersten Festtag hat er sich noch zusammennehmen können und umgängliche Heiterkeit zur Schau gestellt – am zweiten war es ihm Verstellung genug, er schickte alle Langmut zum Teufel und verschanzte sich hinter Grimm und Schweigen. Das hatte zum Ergebnis, dass ihn nur noch die Unbedarften, die Tollkühnen und sein König ansprachen.
So stand er, an eine Säule gelehnt, den wackeren Genossen, den Weinkelch, in der Hand, und betrachtete die Menge der Tanzenden in der Saalesmitte. Die Kerzenflammen waberten im Rhythmus der Sprünge, und ihr Widerschein blitzte als Myriaden Lichtfunken über Edelsteine, Ringe und Stirnreifen. Volker von Alzey – einer der Tollkühnen ohne Zweifel – hatte ihm vorher umständlich zu erläutern versucht, dass der Endreim dem Stabreim in Liebesliedern stets überlegen war. Zudem hatte er seinen Vortrag immer wieder unterbrochen, um mit der Musik der fahrenden Spielleute mitzusummen und dann vor sich hinzumurmeln, an dieser oder jener Stelle hätte er die Weise abgeändert.
Hagen vertrieb ihn schließlich, indem er sagte: „Was soll’s – das Schwert ist immer mächtiger als die Fiedel, denn so ein Holzding kann das Schwert einfach zertrümmern!“
Eine Viertelstunde später erschien ein Knappe und überbrachte ihm die königliche Mahnung, er solle zum einen die Empfindlichkeit einer Künstlerseele beachten, und zum andern mit dem Wein etwas besser haushalten. – Natürlich, nur noch dieser eine Kelch oder zwei. Für seinen König mäßigte er sich gerne!
Sonderbare Musik, dass sie die Leute alle zum Mitwippen anspornte. Selbst die Bischöfe an der Tafel konnten sich eines verhaltenen Fingertrommelns nicht erwehren. Wirklich sonderbar.
Oh, da kam wieder jemand auf ihn zu. Dankwart. Um so wie der zu strahlen, müsste Hagen schon drei Stunden lang besoffen sein, aber auch nur an einem Tag, an dem er in einem Turnier gewonnen hatte.
„Hei“, sagte Dankwart sacht. „Falls du vorhast, irgendwann noch deinen Herzogsumritt zu beginnen, dann kann ich gerne mitkommen, um dir Wegführer zu sein und dir über alles Auskunft zu geben. Aber in sieben Monaten nicht mehr – dann braucht mich meine Frau.“ Er erschien vergnügt wie ein Welpe.
Dankwart als Begleitung mitnehmen? Auf keinen Fall! Die Lehnsmänner und alle Leute würde das zu ständigen Vergleichen verlocken, und da die Leute einfältig stets das bevorzugen, was sie schon kannten, fiele das Urteil selten zu Hagens Gunsten aus! Es hieße dann immer: ‚Seht nur den Dankwart mit seinem liebenswerten Wesen! In unsrer Mitte ist er herangewachsen, ein Sohn des Landes fürwahr! Der andere dagegen, ein Spross der Steppe; hinter jedem Lächeln lauert die Schärfe eines harten Willens. Er soll ja ein vortrefflicher Krieger sein, aber wir mögen ihn nicht, oh nein!‘
Er sollte Dankwarts Angebot freundlich ablehnen. „In der Tat plane ich, in nächster Zeit –“
Dankwart unterbrach ihn atemlos: „Weil ich nämlich Vater werde!“
Hoffentlich war’s kein Sohn, sonst bedauerte man gewiss, dass der Junge einst nicht erben durfte! Hagen hob den Becher. „Auf das Wohl von Mutter und Kind.“
Dankwart gab sich so hingerissen, als müsste es ihn fast zerreißen. Ich sag’s dir, mit keiner anderen Frau hätte ich dieses Übermaß an Seligkeit je kennengelernt! Nichts hat mein Glück mehr befördert als die Verbindung mit Agnes, und müsste ich mich erneut entscheiden – ich gäbe freudig jedes Herzogtum dieser Welt hin, um sie zu bekommen.“
Dass der selbst nach drei Monaten Ehe noch derart betört war – Hagen sollte es recht sein; wenn Dankwart seine unmännliche Hingabe an ein Weib fleißig zelebrierte, fänden sich mehr Befürworter seiner Enterbung.
Vielleicht nähme er ihn doch auf den Umritt mit.
Neuer Abschnitt ab hier:
Der nächste Tag sah den immerregen Wormser Hof endlich einmal zurückhaltend. Die magere Teilnahme am frühen Gottesdienst gab dem Bischof Anlass zu heftigem Tadel, was freilich nichts nützte, da diejenigen, die der Grund seiner Empörung waren, nichts davon hörten.
Danach verabschiedete Gunther seine Gäste, geordnet nach Rang und Namen. Den Schwaben, die ihren Herzog bis zum Rhein geführt hatten, gab er das Geleit bis vor die Tore der Stadt.
Drauf kehrte man zurück in die Pfalz. Gunther ordnete an, dass jeder jetzt seinen eigenen Angelegenheiten nachgehen dürfe. Für ihn und Hagen hieß das, den Mittelpunkt der allgemeinen Beachtung für eine hart verdiente Stunde oder zwei verlassen zu können.
Er lud Hagen in die königlichen Gemächer ein, und Kriemhild ebenfalls. Zwei Knappen trugen ihr eine Kiste aus Kirschholz hinterher und stellten sich schnaufend auf dem Tisch ab. Taube Claudius geriet darüber in helle Aufregung und flatterte eine Runde durchs Zimmer.
„Hagen, rat nur, was drin ist!“, sagte Gunther lebhaft.
„Hoffentlich nicht der gesamte Inhalt der Schatzkammer.“
„Was? Unsinn, der passte nie in eine einzige Kiste. Nein, es sind Bücher!“
„Aus dem Kloster Lorsch“, warf Kriemhild ein. „Ich hab sie ausgewählt.“
„Ich hab’s meiner Schwester aufgetragen, bevor wir nach Schwaben gezogen sind. Jedes Vierteljahr leihen wir bei den Abteien ein paar Dutzend aus.“
Kriemhild drehte den Schlüssel um und stemmte den Deckel hoch. Zwei Stapel ledergebundener Codices warteten verheißungsvoll auf einen, dem sie ihr Wissen offenbaren durften. Früher, als Hagen Gerds mustergültiger Schüler gewesen war, hätte ihn bei diesem Anblick rasende Begeisterung gepackt. Jetzt erfüllte ihn die Gegenwart der Bücher immerhin noch mit der Überlegung, ob er zwischen Reichsführung, Umritt und täglichem Schwertkampf für zwei oder drei wohl noch Zeit finden könnte.
Kriemhild holte ein Pergament heraus. „Der Abt sendet viele Grüße und beglückwünscht den König zu seinem auserlesenen Geschmack. Er hat auch ein Buch mit erbaulichen Heiligengeschichten für die Damen beigelegt, leicht verständlich, wie es angemessen ist, denn die Speise des Wissens sei dem schönen Geschlecht nur in kleinen Dosen bekömmlich. – Da ist ja mein Buch über den gallischen Krieg! – Hier, das wird dir gefallen, frommer Bruder, die Lorscher haben ganz neu einen Codex aus St. Gallen kommen lassen und kopiert: Einen Beda Venerabilis!“
Gunther nahm ihr das Buch sofort aus der Hand und blätterte ehrfürchtig darin herum. Dann legte er es zur Seite und fragte: „Sind auch Väter dabei?“
„Natürlich. Ich dachte mir, dass du auf ein Werk von Ambrosius nicht verzichten wolltest; es wurde auf der Reichenau abgeschrieben und ist von den Lorschern eben erst geprüft worden. Sie haben es gerade wieder zurückschicken wollen, als ich davon erfuhr und in deinem Namen Veto einlegte. Wie habe ich das gemacht?“
„Hervorragend wie stets! Und da ist das Kompendium der Vätertexte, von dem ich dir erzählt hab.“ Er nahm einen besonders abgegriffenen Band heraus und überreichte ihn Hagen. „Wie man sieht: vielgeschätzt und vielgeliebt. Ich ließ ihn wohl schon siebenmal nach Worms bringen, als ich noch Thronerbe war.“
„Dann lass ihn doch nun abschreiben für die Hofbibliothek.“ Er überflog ein paar Absätze. An den Rand der Seiten waren, in unterschiedlichen Handschriften, knappe Marginalien notiert worden, zur Hervorhebung besonders wichtiger Stellen: „utilis ratio“, „optima ratio“ und dergleichen. Auf einer Seite erkannte er Gunthers ordentliche Schrift, und darunter, das – durfte er seinen Augen trauen? Das stammte von Bischof Gerds schwungvoller Hand. Vor über zehn Jahren hatte er dieses Buch gelesen, und das Pergament bewahrte treu sein Andenken. „Oder lass die Mönche die Abschrift behalten, und füge genau dieses deiner Sammlung bei.“
Kriemhild wollte seine Aufmerksamkeit erregen und schlug ihn leicht auf den Arm. „Das hier sind die ersten zwei Bände der Lorscher Chronik über die Herrschaft meines Vaters. Ich dachte mir, es schadet nicht, wenn du hineinschaust; es ist wohl nicht mehr viel, aber doch manches, was dir unbekannt ist über all die Wirren der letzten Jahre.“
„Bestens, vielen Dank.“
Gunther war schon ins nächste Buch vertieft; nun sah er auf und zeigte ihnen, wie gründlich der Exeget am Rande die Urheber jedes Gedankens aufgeführt hatte; Kürzel gaben Namen und Werk an, und meist noch das entsprechende Kapitel. Kriemhild wollte gerade die nächsten Codices aufschlagen, als draußen im Hof Lärm entstand.
„Oh, was ist denn“, murmelte Gunther, legte sein Buch beiseite und trat ans Fenster. Hagen folgte ihm; Kriemhild sagte, sie lasse sich nicht stören vom Grölen des Pöbels.
Doch es waren nicht viele, die diesen Aufruhr veranstalteten, sondern einer allein: Er stand in der Mitte des Hofes, gerüstet und gewappnet, und forderte lauthals den besten Kämpfer heraus. Seinem forschen Zungenschlag nach musste er ein Bayer sein.
„Meint er mich?“, fragte Hagen. „Wenn ich hinuntergehe, wirft man mir dann Hochmut vor?“
„Nein, bleib hier. Der Herzog von Tronje braucht nicht den Launen eines dahergelaufenen Bayern zu gehorchen.“
Hagen zuckte die Schultern und ging zurück zu den Büchern. Lange konnten sie sich den Schätzen des Lorscher Skripturiums leider nicht mehr widmen, denn kurz darauf klopfte es an der Türe. Ohne den Diener ausreden zu lassen, sprang Giselher herein. „Habt ihr es nicht gemerkt? Es steht ein Kämpfer auf dem Hof, der –“
„Ich weiß, ich weiß“, unterbrach ihn Gunther, „wir sind ja nicht taub.“
„Gut! Denn alles wartet schon gespannt auf Hagen!“
„Auf den besten Kämpfer“, sprach Kriemhild und drehte versonnen eine Haarsträhne um den Finger.
Gunther seufzte überdeutlich. Dann schlug er mit einer wohlbemessenen Geste grimmiger Endgültigkeit den Kistendeckel zu. „Wir schauen, was der uneingeladene Gast von uns will. – Nicht du, Kriemhild! Du bleibst hier.“
Mit mäßiger Geschwindigkeit schritten sie durch die Gänge; Giselher wollte ihnen vorausrennen und ihr Kommen den Versammelten ankündigen, aber Gunther hielt ihn zurück. Recht so. Sollte der Fremde nur warten!
Als sie in den sonnigen Hof hinaustraten, brachen die Scharen in Jubel aus. Schon mehrere hundert hatten sich zusammengefunden, Ritter, Gesinde, Stadtbürger und Reisende.
Gunther blieb auf dem Absatz der Saalstiege stehen und hob die Hand. Schweigen strich über die Menge hin. „Was soll die Unruhe, liebe Wormser?“
Eine Vielzahl von Stimmen antwortete ihm zuerst, und man verstand kein Wort; nachdem die Rücksichtsvollen von selber verstummten und die Schwerfälligen zur Ruhe gezischt worden waren, gab der Fremde laute Antwort: „Ich bin Egbert von Krummenstein, Vasall des Herzogs von Bayern. Ich bin der beste Fechter des Jahrhunderts, und wer’s nicht glaubt, dem werd ich es beweisen. Zehn Ritter hab ich schon besiegt, im noblen Kampf zu zweit. Da mein Schwert längst noch nicht gesättigt ist, sein Stahl noch immer Durst verspürt, gelüstet’s uns nach einem neuen Gegner. Nun hörte ich, in Burgund gibt’s einen ansehnlichen Krieger, Sieger über Etzel – ist das wahr?“
Hagen beschied sich mit Schweigen. Genug andere antworteten für ihn.
„Gut“, rief der Ritter, „das klingt recht vielversprechend. Vielleicht wird er’s mir schwerer machen als die andern, weil bei denen war es ein Spiel für mich.“ Er deutete mit langem Arm zum Sattel seines Pferds hinüber, von dem zehn Ringe herabhingen. „Das hier sind die Beweise meiner Heldentaten, jedes Besiegten Siegelring! Wenn Ihr unterliegt, Herzog, wird Eurer sich dazugesellen.“
Jaja.
„Nehmt Ihr den Kampf an, Tronjer?“
Die Leute kreischten und jubelten; Hagen bedeutete ihnen, sie sollten stille sein.
„Ihr wollt meinen Ring im Falle Eures Sieges – doch was versprecht Ihr mir, wenn ich gewinne?
Der Bayer regte sich voll Genuss. „Das Leben.“
Hagen entfuhr ein trockenes Lachen.
Während die Leute sich drüber erheitern, dass einer Hagen von Tronje mit der Aussicht auf nichts zum Kampf reizen wollte, drückte Gunther drängend seinen Arm und raunte: „Geh nicht drauf ein. Der ist nicht ganz bei Sinnen.“
„Das glaub ich auch.“
„Ja“, rief der Bayer volltönend, „das Leben wird der Siegespreis sein! Und der Verlierer bekommt den Tod! Das sind die Regeln meines Kampfes. So einfach ist das!“ Er deutete spöttisch auf Hagen. „Nehmt Ihr meine Herausforderung an?“
Beifall und Gejohle brachen los wie ein Sturm. – Was für ein Tor. Eine kleine Scharte könnte sein Stolz gut vertragen.
„Nichts da“, zischte Gunther mit ungeahnter Heftigkeit, „sag ihm, dass er sich Gegner seines Ranges suchen soll, und mein erster Vasall ist nicht Spielgefährte eines Narren.“
„Aber er ärgert mich.“
„Hehe!“, schrie der Bayer aus Leibeskräften, „Ihr schwankt noch und zögert? Ihr tut gut daran! Denn das Ergebnis, einmal erzielt, lässt sich nicht wieder rückgängig machen! Seid Ihr klug, so klug, wie man Euch zuschreibt, dann nehmt Ihr die Herausforderung nicht an! Feigheit hat schon viele gerettet.“
Hagen lächelte.
„Nun wartet einmal“, rief Gunther zum Bayern hinab, „denn ich bin noch unschlüssig, ob ich Euch als Gast oder als Friedensstörer empfangen soll.“ Und leise zu Hagen: „Der ist verrückt. Wir lassen ihn unbeschadet fortziehen.“
„Ja. Ich entwaffne ihn.“
„Nein! Ein Herzog braucht nicht auf das Gebell eines Köters einzugehen.“
„Es ist kein Aufwand. Geht ganz schnell.“
„Du könntest zu Tode kommen, zum Teufel! Wegen eines kläffenden Fremden gefährde ich nicht meinen wichtigsten Ratgeber!“
Der Zorn stieg auf wie Galle. Dreiundzwanzig Schlachten, der Kampf gegen Etzel, keiner reichte an seine Meisterschaft heran – und sein König fand noch immer Anlass zur Sorge? „Dann seh und staune“, sagte Hagen tonlos, wandte sich um und stürmte die Stiege herunter in vier großen Sätzen. Beim letzten Sprung zog er das Schwert, landete mühelos und rief: „Los, Ihr fallt mir lästig!“
Was kümmerte es ihn, dass er weder Rüstung noch Schild trug, der Bayer dagegen mit dem Kettenhemd beschirmt war? Es machte keinen Unterschied.
Egbert der Bayer war bei seinem Ansturm überrascht zurückgewichen; schnell ergriff er den Schild und zog die Waffe. Das gab Hagen Zeit genug, dass er entscheiden konnte, ob er das Ende des Zweikampfs hinausziehn oder den Toren gleich sofort niederstrecken wollte. Jajaja! Sein König sollte erkennen, wie er zu fechten imstande war!
Es wurde der kürzeste Kampf, den die Pfalz zu Worms je gesehen hatte. Der Staub von Hagens Landung hatte sich noch nicht gelegt, da lag der Bayer schon am Boden. Hagen steckte beide Klingen durch den Sehschlitz des Helms.
Die Leute verharrten atemlos.
„So viel zu Eurer Herausforderung“, sagte Hagen mit stählerner Stimme. „Mein Vorschlag für die Strafe des Verlierers: Der Ausgang des Gefechts soll noch schlimmer sein als der Tod – denn der Unterlegene wird verschont und muss mit der Schmach der Niederlage leben!“
Er zog geschwind die Klingen aus dem Sehschlitz; das Schwert des Bayern warf er unbeeindruckt neben ihm zu Boden. Er gab vor, die Raserei der Zuschauer nicht zu hören, und schritt die Stiege hinauf, so unbekümmert, als habe er lediglich eine Mücke fortgescheucht.
Auf halben Weg holte ihn Kriemhild ein, hatte vermutlich von einer Seitentüre aus zugeschaut und war ihm jetzt hinterhergeeilt. Die hörte auch nie auf ihren Bruder. Er wandte sich halb zu ihr. Sie nahm seine Hände. „Mein wilder Fechter! Ich weiß gar nicht, ob es dich ehrt oder beleidigt, wenn ich dich zum Sieg beglückwünsche – derart mühelos war es!“
„Es ist nicht der Rede wert.“
Sie ließ seine Hände wieder los und suchte stattdessen, den Staub von seinem Gewand abzuklopfen. Da gab es freilich nicht viel zu finden. Nachdem sie etwas an seiner Schulter herumgezupft hatte, gab sie vergnügt wieder auf. Sie spähte an ihm vorbei auf den Hof hinab. „Dein armseliger Widersacher ist nicht mehr keck wie vorher.“
„Geschieht ihm recht.“
Er stieg die verbleibenden Stufen hinauf. Oben erwartete ihn sein König. Dessen Miene zeigte Hagen genau, welch ein Gewitter sich nachher über ihm entladen würde.
„Jetzt hat er Demut gelernt“, sagte Hagen leichthin. „Möge es ihm zum Vorteil gereichen.“
Ein Wächter trat an Gunther heran. „Wie sollen wir mit dem Fremden verfahren, Herr? Sollen wir ihn von dannen jagen?“
„Gebt ihm einen Schlauch Wein, ein Bündel Essen, und wünscht ihm – gute Reise.“
Eilfertig gab der Wächter die Anweisung weiter.
„Bist du Hagen böse?“, fragte Kriemhild. „Ich bin es nicht, ich hatte völliges Vertrauen in seine Kampfkünste.“
Gunthers Blick glitt zu ihr und verlor dabei nichts an Härte. Er deutete Richtung Kemenate.
„Fort mit dir. Der Bayer starrt schon her. Ich will nicht, dass du vor Fremden herumtänzelst.“
Sie atmete nur unwillig aus und ging dann gehorsam davon.
Gunther sah ein letztes Mal in den Hof hinab. Dann bedeutete er Hagen unwirsch, ihm zurück in den Palas zu folgen. Kaum waren sie den fünfhundert Augen der Leute draußen entkommen, als Gunther herumwirbelte: „Bist du denn immer noch besoffen? Was hast du dir dabei gedacht? Rennst einem Wildfremden vor die Klinge, und auch noch –“, er versetzte ihm einen Stoß gegen die Brust, „ohne Rüstung?“
„Mein König, seid ohne Sorge. Ich kann Gefahr sehr wohl einschätzen, ich hab in dreiundzwanzig –“
„Schlachten, jaja! So unbesiegbar bist du nicht gewesen, sonst sähe deine Haut nicht aus wie ein Fischernetz!“
Das tat weh.
„Größte Torheit, dich einfach vom Gefasel dieses Niemands reizen zu lassen!“
„Ich wusste, was ich wagen darf. Mich ehrt deine Empörung, aber sie tut nicht not.“
„Um Himmels willen!“, rief Gunther, „ich machte dich wegen deiner Klugheit zum Herzog, nicht wegen deiner Kampfkunst. Heute merkte ich freilich nichts von deiner Vernunft!“
„Warum soll ich mich feige –“
„Weil es ein Kampf war auf Leben und Tod! Hätte er kämpfen wollen wie bei einem Turnier, dann nur zu, fechte so lang du willst, und ich würd drei Goldbarren auf dich wetten – aber wegen einer Torheit wie dieser will ich nicht meinen besten Berater verlieren, und Freund! Wenn“, er fuchtelte vage Richtung draußen, „wenn du gegen, gegen hundert Männer kämpfen würdest, dann würdest du bei achtzig mühelos gewinnen, ja – bei zehn wär es schwer, und bei den andern zehn, da könnte gar einer dabei sein, der dich besiegen würd. Und –“
„Du magst Recht haben. Mir war es allerdings von Anfang an bewusst, dass dieser hier zu den achtzig gehört.“
„Jeder kann sich täuschen. Im Übrigen – wüsste ich’s nicht, würd ich nie vermuten, dass du Etzel besiegt hast. Also lass die Sturheit und sieh endlich ein, dass ich recht habe! Was hätt’ ich tun sollen, wenn meine wichtigste Stütze mit einem Schwert im Herzen verröchelt?“
Sein König war zu keinem so herrisch wie zu dem, dessen Hingabe er nie verlieren könnte. Zum ersten Mal bei diesem Streit wich Hagen seinem Blick aus. „Ja gut“, sagte er langsam. „Ich ging möglicherweise unbedacht vor. Doch in der Schlacht habe ich schon oft gegen Unbekannte gefochten.“
„Stell dich nicht begriffsstutzig! In der Schlacht ist’s gut so – für ein Gefecht gegen Taugenichtse ist mir jeder Krieger zu schade!“
Hagen seufzte. „Ich – seh es ein. Vielleicht hat mich der Stolz zu sehr angespornt. Beim nächsten Mal zügle ich mich früher.“
Er sah sich rasch um, ob jemand seine Zurechtweisung und seine Kapitulation beobachtet hatte. Es waren zum Glück nur zwei Wächter in der Nähe, die sich alle Mühe gaben, seine Verlegenheit mit rücksichtsvoller Nichtbeachtung zu lindern.
Anmerkungen:
„Sie würden die Schwäbin mit dem vielfältigen Flitterkram des Weiberdaseins rasch von ihren Einmischungsversuchen in die Leitung des Herzogtums abbringen“: Hier lasse ich nur eine misogyne Figur sprechen! Wahrscheinlich ist es Hagen nicht einmal bewusst, dass er frauenfeindlich denkt. Allerdings zeichnet er sich im Epos auch nicht gerade durch feministische Ansichten aus … Die Autorin selber denkt ganz anders als Hagen. Wisst ihr, wen ich dagegen als unerwarteten mittelalterlichen „Feministen“ einordnen würde? Bischof Burchard von Worms! (1000–1025). Später werde ich zu einem Blogartikel über ihn verlinken.
„Grimm und Schweigen“: „Grimm“ klingt natürlich weitaus getragener, ja legitimer als „Grantigkeit“. Aber Hagen ist in dieser Geschichte als unzuverlässiger Erzähler angelegt. Mit 15 hat noch niemand „Grimm“, da heißt das einfach „schlechte Laune“ …
„Um so wie der zu strahlen, müsste Hagen schon drei Stunden lang besoffen sein, aber auch nur an einem Tag, an dem er in einem Turnier gewonnen hatte.“: Dieser Satz ist unbeholfen formuliert. (Jaja, ich weiß, alle anderen sind das auch, aber bei diesem steckte sogar Absicht dahinter! So!) Er soll zeigen, dass Hagen nicht mehr der Nüchternste ist. Da ich selber keinen Alkohol trinke und keine Feste besuche, kann ich diesen Zustand nur annähernd wiedergeben.
„Unmännliche Hingabe an ein Weib“: Im Erec-Epos wird dem Helden der Vorwurf gemacht, dass er sich zu sehr um seine Frau kümmere. (Der Vorwurf ist sogar noch konkreter als hier, wo Dankwart einfach allgemein von ihr hingerissen ist, also auch von ihrem Wesen und ihrem Charakter. Erec verspottet man, sich mit Enite „verlegen“ zu haben, also sozusagen einen überlangen „Honeymoon“ zu leben.)
„Für ihn und Hagen hieß das, den Mittelpunkt der allgemeinen Beachtung für eine hart verdiente Stunde oder zwei verlassen zu können“: Bei mir sind die beiden Hauptfiguren als introvertiert konzipiert. Wer war noch introvertiert und muss vielmals als Inspiration herhalten? Natürlich Bismarck! Obwohl im Hause Bismarck oft viel Trubel herrschte, Gäste ein-und ausgingen, im Garten Kinder und Hunde spielten, während irgendwelche Familienmitglieder mit Pistolen herumballerten usw., zog sich Bismarck doch manchmal für eine Stunde nach oben zurück, um in aller Ruhe Zeitung zu lesen. Er machte auch gerne lange Ausritte oder Spaziergänge. In den letzten Jahren seiner Kanzlerzeit hielt er sich fern der quirligen Hauptstadt (und des energiegeladenen Wilhelms II.) monatelang auf seinen Gütern auf.
Seid ihr auch introvertiert? Ihr seid wie Bismarck!
Die Sache mit den mittelalterlichen Handschriften basiert auf dem Buch „Karolingische Klöster. Wissenstransfer und kulturelle Innovation“ der Reihe „Materiale Textkulturen“, herausgegeben von Professor Stefan Weinfurter. Ich habe das Buch als eBook gekauft, da kostet es 0 Euro. (Wie war das nochmal mit den sparsamen Schwaben?)
Dem Buch habe ich verschiedene Infos entnommen: Abschrift und Gegenprüfung einer Handschrift erfolgte in verschiedenen Klöstern; nach erfolgter Prüfung brachte der Prüfer oft einen Vermerk an. Manchmal hinterließ auch der Abschreiber seinen Namen, bisweilen mit einer Bitte um ein Gebet oder mit einem Stoßseufzer, wie mühevoll die Arbeit gewesen war. Dass die Rezipienten den Text mit Randbemerkungen versahen, ist ebenfalls historisch verbürgt. (Wobei es mich beim Schreiben sehr viel Überwindung kostete, Gunther und Bischof Gerd zu solchen Barbaren zu machen, die in Bücher kritzeln.) Die lateinischen Phrasen sind Zitate aus dem Buch. Gründliche Quellenarbeit, wie sie hier bei einem Exegeten angedeutet wird, war schon zu karolingischer Zeit bekannt.
„die Speise des Wissens sei dem schönen Geschlecht nur in kleinen Dosen bekömmlich“: Wissensaneignung wurde schon in einem karolingischen Text mit Nahrungsaufnahme verglichen.
Dass sich Kriemhild als junge Dame ein Buch über einen Krieg kommen ließ, halten alte weiße Männer bestimmt für modernen Firlefanz, an den Haaren herbeigezogen, „woke“ – sofern sie das Wort kennen. Dabei gibt es genug Frauen, die sich auch für angebliche „Männerthemen“ interessieren. Ich kenne zum Beispiel drei Geschwister, zwei Brüder und eine Schwester, von denen einer genau 0 Bücher zu Kriegen hat, einer genau eines (ein Geschenk seiner Schwester), während die Schwester ihre Bücher über Krieg noch zählen muss und dann die Anzahl hier ( ) eintragen wird.
„Sind auch Väter dabei?“ Gemeint sind die Kirchenväter. Hier wird Ambrosius von Mailand erwähnt. Er verweigerte dem Kaiser Theodosius den Zutritt zur Kirche, bis er Buße für ein Massaker ablegte. Gunthers Lieblingskirchenvater ist aber Augustinus von Hippo.
Reichenau: Insel im Bodensee mit wichtigem Kloster. Insel und Kloster kann man besichtigen. Die Insel ist heutzutage auch als „Gemüseinsel“ bekannt, und so sieht es dort auch aus.
Dass Hagen überlegt, ob er bei so viel Politik, Umritt und Schwertkampf noch Zeit für Bücher finden könnte, ist wieder einmal inspiriert von Bismarck. Er erzählte einmal, es verhalte sich mit der Politik wie mit dem größten Karpfen im Teich, der alle anderen auffrisst, bis er alleine übrigbleibt: So habe bei ihm die Politik alle anderen Leidenschaften aufgefressen.
Ein Haudrauf fordert einen Burgunden zum Zweikampf: Das ist ja nichts Neues, im Epos macht es Siegfried genauso, indem er Gunther, den rechtmäßigen König von Burgund, zum Zweikampf um das Königreich Burgund fordert. (Dieser Auftritt zeugt nicht gerade von überragendem politischen Feingefühl.) Dieser Bayer wird in späteren Kapiteln wieder zurückkehren und Hagen einige Probleme machen.