Der König von Burgund und der Bastard, Kapitel 4

Dieses Kapitel braucht noch einen Titel!

Das Kapitel hat 4000 Wörter. Unten stehen wieder Anmerkungen.
Mit diesem Kapitel nimmt der Schwaben-Handlungsstrang sein Ende.

Zwei Tage später ritten sie in die Ebene hinab, um die Herzogin und ihr Gefolge zu begrüßen. Hagen hielt Gunther den Steigbügel, wie es ihm als ranghöchstem Fürsten oblag. Der Herzogin gewährte der Bischof von Konstanz dieselbe Ehre.

Gemessen gingen König und Herzogin aufeinander zu – vier und sechs Schritte, ach, der Alzeyer konnte argumentieren, soviel er wollte: Hagen trüge es ihm immer nach. An der Hand hielt die Herzogin ihren Sohn. War man mit sieben so klein? Hagen hatte noch nie einen Gedanken daran verschwendet.

Er folgte seinem Herrn in kurzem Abstand, so wie der Bischof von Konstanz auf der Seite der Herzogin. Gunther umarmte die Herzogin herzlich, küsste sie und sprach ihr mit warmen Worten sein Beileid aus. Das Zurschaustellen von weicher Liebenswürdigkeit und allgemeiner Güte beherrschte er bestens – es lag ihm im Charakter – und darum konnte Hagen sich erleichert zurücknehmen mit dem Säuseln süßer Floskeln.

Die Herzogin war gerade noch jung zu nennen, vielleicht fünfundzwanzig – er konnte Frauen nicht einschätzen. Als sie voreinanderstanden, riss die Herzogin die Augen auf und sagte: „Oh.“ Ihr Blick wich nicht von Gunther. Eine leichte Röte überzog ihre Wangen, als sie hinzufügte: „Das seid Ihr also, Herr von Burgund.“

Im wohlberechneten Ränkespiel hatte Hagen bei allem Nachdenken doch diesen einen Vorteil übersehen. Glückliche Fügung, dass sein Herr mit einem sehr vorteilhaften Äußeren begnadet war und die Weiberwelt damit berückte.

Der Bischof von Konstanz, der Begleiter der Herzogin, betrachtete Hagen mit zusammengekniffenen Augen und deutlichem Missfallen. Nur zu! Er würde die Zweifler schon umstimmen.

„Mein treuester Berater, Bischof Gebhard von Konstanz“, sagte die Herzogin, nachdem sie sich aus ihrer Berückung befreit hatte.

Mein treuester Berater, Herzog Hagen von Tronje.“

„Ihr seid wahrhaftig so jung“, sagte der Bischof. „Und ich hatte gehofft, es sei nur Übertreibung, derer sich unser Jahrhundert oft genug schuldig macht.“

„Die Wehklagen, die jugendliches Alter erweckt, sind auch uns bekannt“, erwiderte Hagen. „Umso größer unser Verständnis für die Lage Eures jungen Herrschers.“

„Ganz genau“, rief Gunther, „und umso mehr freut es mich, meinen Nachbarn nun kennenzulernen!“ Er ging tatsächlich in die Hocke und reichte dem Knaben beide Hände. Das war freilich zu viel der Ehre, he! Trotz allem war der Herzog nur ein unbedarftes Kind.

„Seht ihn, den armen, vaterlosen“, sprach die Herzogin weinerlich. „Er muss Flüchtling sein im eigenen Land, wird gejagt wie ein schlanker Hirsch von jenen, die ihn beschützen sollten! Kann’s ein traurigeres Schicksal geben?“

Oh, Hagen hatte sie gleich durchschaut: Die Herzogin zelebrierte ihre Schwäche, kleidete sich ins Weiß der unschuldig Geschlagenen und trachtete danach, sich ins Herz der Gutmütigen zu bohren. Wär sie ein Weib, das jammerte, wie’s Weiber eben taten, da ihnen die Kraft zu Taten fehlte – dann könnte Hagen es ihr nachsehen, denn die Schwäche ihres Geschlechts wär der Freispruch für ein bisschen Selbstmitleid, und mit gutem Zureden war eine Frau für gewöhnlich rasch gewonnen für die vernünftige Männeransicht; die Herzogin aber war sich ihrer Wirkung wohl bewusst, und das missfiel ihm. Sie wollte ihre Schwäche einsetzen, um Männer damit zu täuschen und zu leiten. Wohlan, sein König und er würden die Listige überlisten. Bei den Verhandlungen mit der Frau würde Hagen im Schatten bleiben und seinen Herrn das Wort führen lassen. Die Herzogin würde Gunthers angeborene Sanftmut natürlich für das Ergebnis ihrer Überzeugungskünste nehmen und seinem Angebot stürmisch zustimmen, im Glauben, sie halte das Heft in der Hand.

Gunther hockte noch immer bei dem Jungen, schaute jedoch fragend zur Herzogin auf. „Erlaubt Ihr, dass ich Eurem Sohn ein Geschenk überreiche? Schließlich bin ich Gast in seinem Land.“

Die Herzogin lehnte mit blumigen Worten zum Schein ab, und gab erst nach behutsamem Drängen nach. Der kleine Herzog hatte dagegen gleich von Anfang an nach seinem Geschenk verlangt.

Gunther schnallte einen Dolch von seinem Gürtel ab. Frau Ute hatte ihn in Worms überreden wollen, dem Jungen einen nicht geschärften zu geben. Gunther hatte sich widersetzt, denn allzu zahnlos wollte auch er nicht scheinen. Das Heft war aus Elfenbein gefertigt, abwechselnd mit Saphiren und Smaragden besetzt, und, was in Kriegeraugen nur Firlefanz war, aber einer Frau als Gipfel der Schönheit gelten musste: Die Klinge war vergoldet. Entsprechend begeistert war sie da, und der junge Herzog fuchtelte gleich eifrig herum. Gunther erhob sich geschwind, ehe ihn noch ein ungelenker Streich ins Gesicht träfe. „Mein Herzog könnte ihm ein paar Lehrstunden geben. Er hat, wie Ihr sicher wisst, den Hunnenkönig im Zweikampf besiegt.“

Hagen gab sich erfreut. „Es wäre mir eine Ehre. – Wer, wenn ich fragen darf, lehrt Euren Sohn, die Lasten der Herrschaft zu tragen?“ Er hob beschwichtigend die Hand. „Abgesehen von Euch, edle Frau, die an der Seite eines großen Herrschers reiche Erfahrung gewann, und Euch, geschätzter Bischof, der die Tugend hütet. Wer bereitet den Knaben vor auf Krieg und Anfechtungen?“

„Ihr redet daher wie meine Fürsten“, sagte die Herzogin beleidigt.

Gunther schüttelte den Kopf mit nachsichtiger Besorgnis. „Dem ist nicht so. Wir hoffen nur, dass Euer Sohn vorbereitet wird auf die Stürme, die seiner harren.“

„Denn jeder Herrscher, und sei er auch so sanftmütig wie der meine, wird eines Tages – ja, oftmals allzu bald! – gezwungen sein, das Schwert zu ziehen zur Verteidigung seiner angestammten Güter. Mein König musste schon gegen seine eigenen Leute kämpfen, und dabei gibt es keinen andern, der inniger den Segen jahrzehntelangen Friedens herbeisehnt.“

„Die Last der Herrschaft wiegt zehntausendmal tausend Seelen, und ich wär oftmals gestrauchelt, hätt’ ich nicht einen Beschützer, eine treue Stütze, der mich in allen Kämpfen beschirmt, sei es vor den Hieben tödlicher Schwerter in der Schlacht, sei es vor den Giftpfeilen verlogener Zungen in fürstlicher Runde, sei es vor den verborgen schwelenden Folgen falscher Entscheidungen.“

„Das tu ich gerne, Herr.“

„Wer, frag ich, wird dem Herzog Schwabens Beschützer sein, so wie mir Herzog Hagen der Beschützer ist? Denn einen Helfer in Not und Gefahr hat Euer teurer Sohn zuhöchst verdient.“

Vortrefflich, wie sein Herr das machte! Echt und ehrlich schien die Besorgnis, aufrichtig die Zuneigung zum Schwabenspross.

Die Herzogin erwiderte Gunthers Blick; hatte sie je noch Vorbehalte gehegt, so schmolzen sie nun wohl dahin.

Hagen lehnte sich leicht vor. „Mein König, ich stimme Euch zu in allem, doch wollen wir die Herzogin jetzt ins Lager geleiten, damit sie sich erhole von den Anstrengungen der Reise, ehe wir über die Verwicklungen, die sie herführten, zu sprechen kommen?“

Die Herzogin sollte warten und sich gedulden müssen. Das Hoffen auf den König von Burgund würde ihr taktvoll zeigen, wer Bittsteller und wer Wohltäter war.

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Während Gunther mit lobenswerter Gleichmut die Herzogin in seinem Zelt bewirtete und ihr allerhand Geschenke überreichte (Steine, Stoffe und viele weitere Zeugnisse burgundischer Großzügigkeit), bewies Hagen vor den Männern ihres Gefolges ebenfalls burgundische Höflichkeit, wechselte mit jedem ein paar Worte und forschte vorsichtig nach, wie sie zu seinem König standen. Es erfüllte ihn mit Genugtuung, dass Gunther sich die Anerkennung der meisten gewonnen hatte; die einen waren beeindruckt, dass er aus Rücksicht auf den schwäbischen Verlust ein fröhliches Fest beendet hatte, die anderen gaben mit verhüllten Worten zu verstehen, dass ein König, der vom eigenen Tross lebte in einem fremden Land, ein Muster an Anstand war.

Einige Grafen und Ritter hatten sie auf ihrer Reise bereits früher getroffen. Graf Heinrich, dessen Tochter Gunther so umsichtig mit Arznei versehen hatte, hörte gar nicht mehr auf, Hagens Hand zu schütteln, und bat ihn ein ums andere Mal, dem König seinen schönsten Dank zu übermitteln. – Bestens, bestens war es bisher gelungen.

Am späten Nachmittag ritten Gunther und seine Fürsten erneut hinunter zum Donauufer: Die andere Partei, die streitbaren Fürsten, trafen ein. Ihr Heer lagerte ein paar Meilen entfernt, zum Kampf bereit, sollte der Vermittlungsversuch nicht das gewünschte Ergebnis zeitigen.

Dieses Mal ging Gunther den anderen nicht entgegen, sondern wartete stolz, bis sie heran waren. Er neigte sich nicht so tief wie bei der Herzogin, und auch Hagen wahrte genau das Ausmaß der nötigen Ehrbezeigungen. Als Herzog war er allen hier im Rang überlegen.

Mit wohlbedachten Worten dankte Gunther den Männern für ihr Kommen, für ihre Bereitschaft zur unblutigen Beilegung des Zwists, und für die gütige Aufnahme, die ihm in allen Burgen auf dem Weg zuteil geworden war. Die Fürsten erwiderten den Dank mit pflichtbewusster Bescheidenheit. Die zehn höchsten unter ihnen folgten ihm alsdann in sein Zelt. Ein langer Tisch war dort aufgebaut, und bester Wormser Wein bereitgestellt.

Man setzte sich. Als Vertreter Burgunds waren außer Gunther und Hagen nur noch Markgraf Eckewart und Markgraf Ortwin zugegen; auf Fürbitte eines zurecht vergrämten Fürsten hatte Gunther den Alzeyer kurzfristig ausgeschlossen.

„Ihr lieben Männer“, sagte Gunther, nachdem auf das Wohl des jungen Herzogs getrunken worden war, „nun nennt mir freiheraus Eure Sorgen; ich verspreche, dass nichts, was sie nicht hören soll, der Herzogin zu Ohren kommen wird.“ Sein langsames Zurücklehnen müsste jeder andere für die Bereitschaft aufmerksamen Zuhörens halten; Hagen wusste, dass es vielmehr Erleichterung war, den weiteren Fortgang der Ereignisse seinem treuesten Mann überlassen zu dürfen.

„Die Herzogin verweichlicht den Jungen!“, rief der Graf von Reutlingen.

„Sie verweigert sich unserem Rat und ist nicht bereit, den Herzog einem Mann zur weiteren Erziehung zu übergeben!“, sagte der Graf von Friedberg.

„Ich sprach zu ihr vor zwei Monaten, und erinnerte sie an die Notwendigkeit, einen Knaben mit dem Kriegshandwerk vertraut zu machen“, sagte nachdenklich der Graf von Zollern, „da erhob sie keck die Hand und gab zurück: ‚Mein Sohn wird nie in eine Schlacht reiten, denn er wird weise jede Herausforderung mit seinem Verstand zu lösen wissen!‘ – Diese Frau ist doch kein Umgang für einen jungen Herrscher, auch wenn sie seine Mutter ist!“

So ging es fort, bis ein jeder seine Beschwerden aufgezählt hatte. Als auch der letzte zum Ende gekommen war, nahm Gunther die Hände zusammen und nickte bedächtig.

„Herr, erlaubt Ihr, dass ich das Wort ergreife?“, fragte Hagen ehrfürchtig, damit alle sahen, dass selbst der Bezwinger Etzels seinem Herrn hingebungsvolle Untertanentreue schuldig war.

„Jederzeit, Herzog.“

Hagen erhob sich schwungvoll. „Ich halte Schwabens Nöte für sehr bedrohlich“, sagte er scharf. „Es geht nicht an, dass ein ganzes Reich dem Willen einer Frau ausgeliefert ist. Widersetzt sich die Herzogswitwe der Führung durch Klügere, versündigt sie sich an ihren Fürsten und an ihrem Sohn, dem sie das Privileg, zu einem echten Mann heranzuwachsen, vorenthält. – Ihre Anhänger und Apologeten freilich preisen ihre Mutterliebe, die alle durchtriebenen Pläne mit dem Goldglanz ‚bester Absichten‘ überzieht – doch ist eine Mutter, die ihr Kind vor der Welt abschirmt und in seinem Namen ein Reich zu beherrschen gedenkt, noch eine Mutter? Ist Ihr Sohn noch Sohn? Ist er nicht vielmehr Geisel?“

Hier unterbrachen ihn frenetische Zwischenrufe der Fürsten.

„Was wäre nötiger, als den Herzog dem Zugriff der Witwe zu entziehen?“, fuhr er fort. „Euer Heer ist bereit, seine Waffen sind scharf – allein Schwabens Nachbarn sind nicht alle freundlich gesinnt wie das Reich meines Herrn. Ein Bürgerkrieg, und wäret Ihr auch noch so siegreich, brächte Schwaben eine Wunde bei, an der es schließlich zugrunde gehen könnte. Die fruchtreichen Gefilde dieses Landes mit seinen tüchtigen Bauern erwecken manche Begehrlichkeit. Schwaben, zerrissen wie es jetzt ist, oder geschwächt, wie es nach dem Krieg sein wird, liegt zwischen den Schwertern der Franzosen und den Äxten der Bayern.“

„Doch Burgund wird uns beistehen?“, rief man aufgeregt

Hagen warf Gunther einen bedeutungsvollen Blick zu. Der neigte sich bescheiden im Angesicht des schwäbischen Vertrauens. „Burgund will nicht mitansehen, wie sein meistgeschätzter Nachbar zur Beute fremder Bestrebungen wird – noch wie sein Nachbar sich in innerlichen Kämpfen zerfleischt.“

„Der junge Herzog braucht, dessen sind wir uns alle einig, die Führung bewährter Männer“, sagte Hagen. „Was Schwaben nicht braucht, ist ein Bürgerkrieg. Nun verläuft der Zwiespalt mitten durch Euer Land; die Hälfte des Adels vereinigt die Herzogin auf sich, die andere Hälfte steht zu Euch. Wir sind uns darin einig, dass das vorrangige Ziel aller aufrechten Männer sein sollte, die Weiberherrschaft zu beenden und den Knaben in die Obhut von Fürsten zu geben, die ihn zum weisen Herrscher und furchtlosen Krieger heranbilden, damit er in acht Jahren Euer Land lenke mit segenbringender Hand. Nun könnte man ihn – wenn ich es wagen darf, einen Vorschlag zu machen – von beiden Parteien abwechselnd erziehen lassen, ein halbes Jahr bei den Leuten der Witwe, ein halbes Jahr bei Euch.“

Schon wollte sich Widerstand regen, da hob er die Hand. „Man könnte ihn jedoch auch in die Obhut einer dritten Partei geben, der es ein inniges Anliegen ist, Schwabens Handlungsfähigkeit und Macht auf Jahrzehnte hin zu sichern. So wie Schwaben einen fähigen, nicht verweichlichten Herzog braucht, der es führen kann in Frieden und Krieg, strebt Burgund danach, Schwaben stark und einig zu halten, sodass es sicher sein kann, dass von Süden nicht Gefahr heraufzieht.“

Gunther erhob sich. „Es ist ein Wunsch, der mir aus Herzenstiefen kommt“, sprach er sanft. „Wie der Patenonkel das Kind zu sich nimmt, wenn es die Eltern in Gefahr sehen, so will ich Eurem Herrn eine Heimstatt bieten. Es soll ihm an nichts mangeln; die besten Lehrmeister geb ich ihm: Bischöfe werden ihn unterweisen im Glauben, von den Fürsten lerne er zu wirtschaften, von mir den Umgang mit fremden Boten, vom Sieger über den Hunnenkönig das Kämpfen. Wann immer Ihr Euch vom Fortschritt seiner Lehren überzeugen wollt, seid Ihr mir auf das herzlichste willkommen, und wünscht Ihr, dass er tiefer eingeführt werde in die Besonderheiten Eures Landes, dann nehme ich gerne die von Euch bestimmten Lehrer bei mir auf. Es wär mir eine Ehre, Eurem Herzog Gastgeber zu sein.“

Oh, hervorragend machte er das! Mit größter Selbstlosigkeit bot er ihnen das Füllhorn seiner Güte an – nun war es an ihnen es anzunehmen.

Die Schwaben zögerten noch.

„Und was schlagt ihr vor, wie wir mit dem Weib verfahren sollen?“, fragte der Graf von Zollern. Sein Blick galt dabei nicht dem König, sondern Hagen. Unerhört, dass man seinen König überging! Deshalb richtete er die Antwort mehr an Gunther als an die Schwaben. „Würde die Herzogswitwe aufhören, Aufruhr zu verursachen, bis sie ihren Sohn wiederhat? Das bezweifle ich sehr. Für sie gilt wie für jedes Weib: Um ihren Ehrgeiz zu bändigen, muss man sie glauben lassen, gewonnen zu haben. Mein Herr ist bereit, sie in Worms aufzunehmen, wo der Pracht und Prunk einer glänzenden Metropolis sie bald von allen machtgierigen Plänen ablenken werden.“

Gunther nahm demütig die Hände vor der Brust zusammen und ließ den Blick über die versammelten Fürsten schweifen. „Das ist mein Vorschlag, liebe Schwaben, und sprecht Ihr Euer Ja, so strebt fortan ganz Burgund danach, Eurem Herzog die treueste Stütze zu sein.“

Wie Hagen es geplant hatte, nahmen die Schwaben das Füllhorn von Gunthers Güte eifrig an.

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Am Abend besuchten sie die Herzogin in ihrem Zelt. Hier saß sie zwischen den kostbaren Geschenken, den unbedarften Sohn spielend zu ihren Füßen, und ließ sich von einer Zofe kämmen. „Ach, wie ehrt es mich, dass Ihr mich aufsucht!“, rief sie entzückt, „aber vergebt mir, dass ich in diesem unwürdigen Zustand vor Euch sitze – hätt’ ich von Eurem Kommen gewusst, hätte ich mich herausgeputzt für Euch.“

Gunther versicherte ihr gnädig, dass sie an ihrem offenhaarigen Zustand keinen Anstoß nahmen.

Die Herzogin bot ihnen einen Stuhl an; Hagen zog es freilich vor, finster hinter seinem Herrn stehenzubleiben. Die Herzogin verwickelte Gunther zunächst in einen Monolog über ihr bedauernswertes Los als Witwe und Mutter, bis selbst Gunthers Geduld zur Neige ging.

„Ich bewundere die Duldsamkeit, mit der Ihr Euer Los bisher getragen habt. Darum ist es mir eine umso schönere Freude, Euch einen Vorschlag zu unterbreiten, der Euer Leiden, wie ich hoffe, mit dem Kranz der Belohnung schmücken darf.“

Die Herzogin blinzelte überrascht. „Eure Güte ist weit wie der Ozean/Bodensee, lieber König.“

„Hört mich erst an, ehe Ihr urteilt. Ich hoffe sehr, dass mein Vorschlag Euer Wohlgefallen findet.“ Also wirklich, so sehr brauchte er nicht zu schmeicheln!

Gunther legte ihr draufhin alle Vorteile eines Aufenthalts am Wormser Hof dar. Als die Herzogin wichtigtuerisch erwiderte, sie brauche noch Bedenkzeit – oh, Hagen sah genau, dass sie schon gewonnen war, und nur seinen König warten lassen wollte – beugte sich Gunther kurzerhand zum Herzogsknaben hinab und fragte ihn im unschuldigsten Tonfall, ob er einmal Worms sehen wolle. Ha, da stutzte die Herzogin! Der kleine Junge gab sich ganz begeistert; drum bedachte Gunther die Herzogin mit einem Blick, als könne er auch nichts mehr dagegen unternehmen, der Wille des Knaben sei bindend.

„Nun gut, Ihr habt ja recht“, sagte die Herzogin – ein strahlendes Lächeln begleitete ihre Worte – „in Worms wird er beschützt sein vor allen, die ihm Böses wollen, und ich bin endlich gerettet vor den Anfechtungen meiner Feinde. Ihr seid ein edler Mann, König Gunther.“

Und so kam es, dass der Erbe des Schwabenlandes an den Hof nach Worms kam, wo er zu einem Freund und Bündnispartner Burgunds erzogen würde – und die Herzogin von Schwaben wie auch ihre feindlichen Fürsten glaubten jeweils, sie hätten gewonnen und die Widersacher überlistet.

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Am nächsten Tag versammelten sich die Burgunden und die Schwaben beider Parteien auf freiem Feld. Mit hallender Stimme, hörbar auch für die niedrigsten Ritter in hinterster Reihe, trug ein Herold das Angebot des Königs vor. Die Männer der Herzogin wie auch ihre Feinde bezeugten ihre Zustimmung mit lauter Akklamation. Mit Umarmen und Küssen wurde die Versöhnung gefestigt vor aller Augen, und die Freude der Schwaben erreichte einen ungeahnten Höhepunkt, als Gunther einen feurigen Apfelschimmel heranführen ließ, mit Sattel und Zaumzeug aus rotglänzendem Leder, und ihn als Unterpfand seiner Freundschaft dem jungen Herzog übergab. Wohlberechnet war die Geste: Um ein solches Tier zu reiten, musste man die Verwegenheit eines Mannes besitzen. Die Fürsten konnten beruhigt sein – ihr junger Herr würde in Burgund recht geformt werden.

In Gunthers Zelt wurde die Urkunde verlesen, dem Anlass gemäß nicht von einem bloßen Herold, sondern von Burgunds erstem Vasallen. Die Vormundschaft über den jungen Herzog erhielten die schwäbischen Großen, seine Mutter und der König von Burgund. Was gesamtschwäbische Angelegenheiten betraf, sollte von allen Parteien gemeinsam entschieden werden. Gunther befahl, die Urkunde reihum gehen zu lassen, damit jeder sich vergewissern könne, dass alles wie vorgetragen festgehalten war. Mancher Fürst las die Zeilen wachsam durch, ehe er das Pergament zufrieden weiterreichte; mancher andere heuchelte Alphabetismus, ließ den Blick mit überdosierter Hingabe kreuz und quer über das Schriftstück wischen, ehe er es, für gut befunden, mit Kennermiene an den nächsten weitergab.

„So wollen wir unterzeichnen“, sprach Gunther. Ein Knappe tauchte den Schwanenkiel in die Eisengallustinte; sein Herr unterzeichnete mit dem Schwung der wohlgeübten Hand.

Die Herzogswitwe war die nächste, drauf der Bischof von Konstanz und die anderen Geistlichen, alsdann Hagen, danach setzten immer im Wechsel Burgunden und Schwaben Unterschrift oder Handzeichen darunter. Es entging Hagen nicht, dass eine beträchtliche Anzahl Schwaben beider Parteien mit verstohlenem Lächeln vom Tisch zurücktrat, wie der durchtriebene Geschäftsmann, der seinen Kunden hochvergnügt von dannen ziehen sieht: übertölpelt, doch überzeugt, er habe das beste Angebot erhascht.

Zuletzt zog Gunther den wuchtigen Siegelring vom Zeigefinger und presste sein Wappen ins flüssige Wachs.

Es war alles so ergangen, wie Hagen es ersonnen hatte. Ehre und Macht für Gunther und Burgund!

Als das Siegel trocken war, hielt Gunther die Urkunde dem Bischof von Konstanz hin: „Bitte, lieber Vater, bekräftigt diese weltlichen Bande mit dem Kitt eures Segens.“

Der Bischof sprach ein paar würdige Worte, während die Fürsten zuhörten mit gesenktem Haupt.

Beim anschließenden Festmahl – auf Kosten des Königs von Burgund natürlich – mischten sich die Schwaben mit den Rheinischen, und als die Speisen verzehrt waren, stand man noch in losen Scharen scherzend und lachend beisammen. Hagen ging lautlos von der einen Gruppe zur anderen, hörte aufmerksam zu und erforschte behutsam die Stimmung.

„Ein Glück, dass unser Bub nun doch noch in den Genuss einer richtigen Erziehung gelangt“, sagte ein Schwabenritter mit unverhohlenem Siegerstolz. „Ich sag’s Euch, die Herzogin haben wir überlistet!“

„Sie wird heulen, wenn der Junge zum ersten Mal ins Turnier reitet! Sie hat ein Mäuschen aus ihm machen wollen, und nun wird er zum Helden!“

Ich sag’s Euch – in acht Jahren wird uns die Herzogin alle verfluchen!“

Ein Graf bemerkte Hagen und hob den Weinkelch zum Gruß. Die andern wandten sich um, überboten sich mit Lobesworten für seinen Herrn, dessen Reich und ihn selber. Er nahm es mit Dank entgegen, und fügte hinzu, dass er schon voller Vorfreude der ersten Fechtlehrstunde mit dem jungen Herzog entgegensehe. Dann schritt er weiter, immer wachsam.

Markgraf Eckewart unterhielt sich mit einer Handvoll Anhängern der Witwe.

„Seid unbesorgt, die Unterweisung in Geistesdingen wird nicht zu kurz kommen. Ihr braucht nur den König anzusehn: Er ist der Schild des Friedens und die Zuflucht der Verfolgten; die kalte Stimme der Schwerter lässt er nur sprechen, wenn seine Gegner den Segen von Rat und Weisheit mit Flüchen entgelten.“

„Gepriesen sei Euer Herr, dass er unseren Herrscher aus den Klauen der Eiferer entrissen hat.“

Der Bischof von Konstanz sprach heftig: „Keiner von ihnen dachte ans Wohl des Landes; sie wollten nur das Kind an sich raffen, um in seinem Namen uns das Joch ihres Willens aufzuzwingen.“

„Gründlich misslang der schmähliche Plan!“, rief ein Ritter und hob stolz den Kelch.

Gerade wollte Hagen zu ihnen treten, als einer der schwäbischen Grafen dem braven Eckewart bedeutete, sich herabzubeugen, und raunte – Hagen konnte es nur mit Mühe verstehen – „Ist es wahr, dass der neue Tronjeherzog für Euren König gar noch unverzichtbarer ist, als es der alte für König Gibich war?“

Eckewart nahm sich einen Augenblick Bedenkzeit. „König Gunther gönnt jedem seiner Männer Gehör, doch schließt sich stets dem klügsten Rat an. Ihr seht, dass Burgunds einstige Geisel jede Kiste Tribut wert war.“

Wie ehrenwert von Eckewart! Hagen würde sich nachher dafür bedanken. Der Speyerer war ein Mann, der vorrangig an den König dachte, nicht an eigene Befindlichkeiten wie die Neider und Zwietrachtsäer.

Unbemerkt entfernte er sich wieder. Die Macht seines Königs war ohne einen Streich um ein Drittel gewachsen, das Nachbarland war befriedet, und Schwabens Herzog würden sie so geschickt zu erziehen wissen, dass er noch jahrzehntelang zu Gunther aufsehen würde wie der Vasall zu seinem Herrn. – So ähnlich musste sich ein Meister fühlen, ein Bildhauer oder Schwertschmied, im Angesicht des vollendeten Werks.

Am nächsten Morgen, als bis auf die Amseln noch kein Vogel wach war und die Donau noch unter weißen Schleiern träumte, nahmen die Schwabenfürsten ihren Abschied vom jungen Herzog. Es neigte sich jeder vor ihm, und keine geringe Zahl flocht in die Segenswünsche des Auseinandergehens noch die Mahnung ein, sich in der Fremde gut zu betragen und die Weisungen seiner Gastgeber fleißig zu befolgen. Gunther geleitete die Fürsten bis ins Tal hinab. Nachdem die Schwaben aufgebrochen waren, verharrte er eine Weile und blickte ergriffen ins Land hinaus. Hagen ließ Totenwache näher treten.

„Ihr habt Eurem Namen reichen Ruhm gewonnen, König von Burgund – und Schutzherr von Schwaben.“ Kein Becher Wein hatte ihn je so berauscht wie der Ambrosiageschmack des Erfolgs.

Gunther blickte auf den Pferdehals, selbst im Sieg noch unsicher, ob er den Lorbeer wirklich annehmen durfte. Dann bedachte er Hagen mit einem weichherzigen Lächeln. „Wir wissen beide, wessen Beitrag der weit größere war, und wem ich Dank schulde. Freilich bin ich ratlos, wie ich mich dafür erkenntlich zeigen soll, lieber Herzog. Ich kann Euch weder ein Lehen noch meine Treue versprechen, denn beides gehört Euch schon. So müsst ihr Euch wohl damit abfinden, dass ich von den Schwaben eines bereits gründlich gelernt habe: die Sparsamkeit hochzuhalten.“ Seine Miene wurde wieder nachdenklich. „Der Machtzuwachs erfüllt mich mit Stolz, natürlich – aber weißt du, mehr noch freut es mich, einen Krieg verhindert zu haben. Dass Burgund als Friedensstifter in die Chroniken eingeht – unter meinem Vater wäre das nie geschehen. Danke, mein Freund. Ich glaube, dass Burgund einer glänzenden Zukunft entgegengeht.“

Anmerkungen:

Der ranghöchste Fürst hält dem Herrscher den Steigbügel: Ob auch Geistliche das Privileg/die Pflicht des Steigbügelhalterdienstes übernommen haben, weiß ich nicht. Sollte ich noch etwas dazu finden, werde ich es hier hoffentlich einarbeiten.

„darum konnte Hagen sich erleichert zurücknehmen mit dem Säuseln süßer Floskeln“: Dies soll nicht heißen, dass Hagen hier Gunthers Verhalten herabwürdigt als „Säuseln süßer Floskeln“, was seinem König gegenüber ziemlich unfreundlich wäre, sondern bezieht sich auf Hagens eigene Haltung gegenüber der Herzogin. Da er kein echtes Mitgefühl verspürt, wäre es bei ihm nur Heuchelei. Vielleicht fällt mir noch eine andere Formulierung ein.

„War man mit sieben so klein?“ und „Die Herzogin war gerade noch jung zu nennen, vielleicht fünfundzwanzig“: Dies soll nicht den langlebigen Irrglauben unterstützen, dass man „früher“, also in Zeiten mit geringerer Lebenserwartung, schon mit z. B. 30 als „alt“ galt – sondern soll illustrieren, wie jung die Figur des Hagen in dieser Geschichte ist. Dass 15-jährige Menschen noch nicht beurteilen können, wer wirklich alt ist, wissen alle, die nicht mehr 15 sind. Genauso können viele junge Leute, die mit Kindern nichts zu tun haben, auch kaum das Alter von Kindern richtig einordnen. Und als Funfact zum Schluss: Hildegard von Bingen schreibt in „Ursache und Entstehung der Krankheiten“, dass Frauen bis zum 50. Lebensjahre ihre Regel haben, manche sogar bis 70, und dass ab 70 dann die Runzeln und der Verfall kommen. Bei Männern sollen Runzeln und Verfall sogar erst ab 80 kommen.

„Das tu ich gerne, Herr.“ Im Epos ist „Daz tuon ich“ Hagens erstes Zitat.

„dass ein König, der vom eigenen Tross lebte in einem fremden Land, ein Muster an Anstand war“: Hier wird wirklich keine Gelegenheit ausgelassen, das Klischee der schwäbischen Sparsamkeit zu erwähnen.

Der junge Schwabe wird Gunther als Mündel übergeben: Dieser ganze Handlungsstrang wurde inspiriert von einer Begebenheit des Frühmittelalters: Damals herrschten die Welfen in Burgund (Rudolf I., Rudolf II., Konrad, Rudolf III.). In einer Phase der Wirren brachte Otto der Große den minderjährige Konrad in seine Obhut. Als König von Burgund war Konrad später ein verlässlicher Partner Ottos.

Die Anwesenheit von Zeugen bei der Ausstellung einer Urkunde war der Normalfall. Die Zeugen wurden nach Rang geordnet aufgeführt, Geistliche eventuell zuerst. Im deutschen Hochmittelalter konnten nicht viele weltliche Adlige lesen und schreiben. (In Frankreich waren ein höherer Anteil der Fürsten lesekundig.) Dass in dieser Szene der wichtigste Fürst (natürlich Hagen) die Urkunde verliest, ist jedoch nicht vom Mittelalter, sondern wieder einmal von Bismarck inspiriert. Er las die Kaiserproklamation vor (wenig salbungsvoll, da der Kaiser und er seit dem Vortag verstimmt waren).

Eisengallustinte: Für Eisengallustinte braucht man Galläpfel, das sind Äpfel von Bäumen, die von einem speziellen Schädling befallen sind. Auch heute noch kann man solche Tinten kaufen. Für mich wäre das allerdings nichts, ich mag keine trockenen Tinten, und Eisengallus ist enorm trocken. Diamine Oxford Blue ist die beste! (Not sponsored.) Neben der Eisengallustinte wurde im Mittelalter auch Dornentinte verwendet.

Der Prozess des Siegelns wurde nur erwähnt, weil ich einflechten wollte, dass man einen Siegelring am Zeigefinger oder am Daumen trug. Das steht in dem Ausstellungskataglog „Heinrich IV. Kaiser, Kämpfer, Gebannter“ des Rheinischen Museums Speyer, und hätte ich es dort nicht gelesen, wäre mir nie in den Sinn gekommen, zu recherchieren, an welchem Finger man einen Siegelring trug. So cool.

Es folgen noch ein paar Scherze über die Sparsamkeit der Schwaben, haha …