Ich habe keine Ahnung, wie ich dieses Kapitel nennen soll …
Das Kapitel hat 3700 Wörter, ist also mittellang bis lang. Die Anmerkungen schlagen mit 2000 Wörtern zu Buch! Dieses Mal gibt es auch viel zu erläutern.
Fünf Tage später ritt Hagen zu seiner Burg hinüber. Bevor er den Umritt antrat, plante er noch einige Maßnahmen anzustoßen. Mit Jubel eilten ihm die Burgbesatzung und das Gesinde entgegen, noch während er den Hang hinauftrabte.
„Herr, wie klug Ihr wart! Ihr habt uns Schwaben zum Bündnispartner und Freund gemacht!“
Er neigte sich vor ihren Lobreden. Begleitet von seiner Schar zog er in die Burg ein, sprang schwungvoll ab und gab Totenwache in die Obhut eines Pferdeknechts. Dann schritt er in die herzoglichen Kammern hinauf. Fortan waren sie die seinigen.
Mit dem Zeigefinger strich er misstrauisch über den Tisch – kein Staubkörnchen, wohlan. Am Rande des Tisches war jedoch ein Strauß Blumen aufgestellt worden von irgendeiner allzu wohlmeinenden Magd, und prunkte mit fröhlichen Farben. Den ließ er gleich hinaustragen – was sollten denn die Leute von ihrem neuen Herzog denken! Dass er umgänglich und liebenswürdig war? Unsinn!
Eilig ward Wein herbeigebracht; Pergament, Tinte und Federkiel standen schon bereit. Hagen schickte nach dem ersten, dem Schmied der Burg.
Der kam nach erfreulich kurzer Zeit, ein vierschrötiger Mann mit dem Kreuz eines Ochsen und sehnigen Händen, die er unbewusst an seiner Lederschürze abrieb. Notdürftig hatte er sich den Schweiß von der Stirn abgewischt, unter den Augen jedoch vergessen.
„Einen guten Mittag wünsche ich Euch, edler Herzog“, sagte er mit einer Lautstärke, die ihm nach langen Jahren des Befehligens über Hammerschläge und zischendes Wasser hinweg wohl in Fleisch und Blut übergegangen war. Umgeben von der Stille der herzoglichen Kammer, dem schweigenden Eichenholz und den reglosen Waffen zuckte er freilich selber zusammen vor seiner mächtigen Stimme.
„Danke“, sagte Hagen, und fügte hinzu, weil es immer klug war, sich die Zuneigung fachkundiger Leute zu gewinnen, „gleichfalls.“
Er deutete knapp auf den Stuhl gegenüber. Der Schmied nahm Platz. Auf seinem Gesicht zeichnete sich Bewunderung ab. Vermutlich hatte er mit dem vorherigen Herzog niemals wie von gleich zu gleich reden dürfen.
„Heinrich“, sagte Hagen, „man hat mir berichtet, du seiest der beste deiner Kunst im ganzen Herzogtum. Stimmt das?“
„Ach, Herzog, mit Verlaub, das ist sehr freundlich, aber ich will ja nicht angeben.“
Hagen nahm seinen Schild neben dem Stuhl, einen prächtigen neuen, noch unbemalt, und legte ihn zwischen ihnen auf den Tisch. „Hierfür brauche ich deinen Sachverstand. Wär’s möglich, den zu versilbern?“
Der Schmied betrachtete das Holz. „Ja, durchaus. Nur dass ich kein Silber habe.“
Hagen beugte sich erneut herab und hob einen Beutel mit Münzen auf. Als er ihn neben dem Schild absetzte, klingelten sie hell. „Sieh hinein, und sag mir ehrlich, ob das genug wär für den Überzug und deine Entlohnung.“
Der Schmied tat wie geheißen und stimmte herzhaft zu. „Aber – warum? Die Versilberung macht den Schild zwar schwerer, doch nicht viel stärker.“
Hagen lehnte sich zurück und zog eine Braue hoch. „Ich will’s dir gerne zeigen, wenn er fertiggestellt ist. Dann wird er mehr Waffe als Abwehr sein.“
Er bedankte sich knapp und entließ den Schmied.
Die nächsten, die eintreten durften, waren ein Zimmermann seiner Burg und der Wormser Dombaumeister. Die Arbeit des letzteren hatte sich, so sagte Gunther, in den vergangenen Jahren darauf beschränkt, nach Unwettern die Türme auf- und abzuschreiten und sonst durchreisenden Zimmerleuten das Gebälk zu zeigen.
Im Gegensatz zum Schmied waren sie vom Umgang mit Edelleuten wenig eingeschüchtert, neigten sich tief und erklärten sich stets zu Diensten.
„Nehmt Platz, schenkt euch Wein ein.“
„Danke Herr, danke!“
Hagen stützte die Ellenbogen auf und legte die Fingerspitzen zusammen. „Kennt ihr Belagerungstürme?“
Der Burgzimmermann erstarrte verlegen und schielte zum Dombaumeister hinüber, in der Hoffnung, dessen Beschlagenheit möge sie beide retten.
Zu seinem Glück und zu Hagens Zufriedenheit nickte der Dombaumeister. „Ja doch. Im Osten und südlich der Alpen finden solche Bauwerke noch ihre Verwendung; hier in der Mitte des Abendlands hat man keine je gesehen.“
Der Zimmermann murmelte zu Bekräftigung: „Ganz richtig.“
„Gut“, sagte Hagen. „Ihr sollt mir einen bauen, hier vor meiner Burg, einen voll verwendungsfähigen. Stellt so viele Leute an, wie ihr braucht. Wann könnt ihr anfangen, und wie lange wird es dauern?“
Der Zimmermann griff schnell zum Weinkelch, damit er zu beschäftigt für eine Antwort schiene. Der Dombaumeister enttäuschte Hagen nicht: „Aber Herr! Wir sollen etwas bauen, das wir noch nie zu Gesicht bekommen haben? Wir sind völlig ratlos!“
Der Zimmermann stellte seinen Kelch erleichtert wieder ab.
„Ich habe schon einmal Belagerungstürme im Einsatz erlebt, bei der Belagerung von Gran. Sonderlich anspruchsvoll dünkte mich der Bauplan nicht. Ich will euch Auskunft gegen geben, soviel ich vermag.“ Er legte das Pergament vor den Dombaumeister hin, schob auch hilfsbereit dessen Weinkelch zu Seite, und, damit wirklich Platz genug war, den des Zimmermanns. Er hätte gar noch den Federkiel in die Tinte getaucht, wenn nicht zuvor der Anstand dem Dombaumeister zu flinkem Arbeitseifer verholfen hätte.
„Schildert mir alles, Herr, ich tue, was ich kann.“
Hagen beschrieb die Türme, und der Dombaumeister ließ die Feder übers Pergament fliegen, zeichnete mit raschen Strichen ein Bild nach Hagens Worten und kritzelte an den Rand wichtige Erkenntnisse. Auch der Zimmermann legte nun seine Scheu ab, beugte sich gebannt übers Pergament und steuerte ein paar Einwürfe bei. Bald gerieten sie in Fahrt, übernahmen den Gesprächsverlauf und stellten allerlei Fragen, die Hagen so gut es ging zu beantworten suchte. Als ihre Fragen immer fachmännischer wurden, von Dingen handelten, die seinem Laienauge nie aufgefallen waren, dann sogar Begriffe beinhalteten, die er noch nie gehört hatte, schlug er leicht die Hände zusammen und sagte: „Damit müsst ihr euch begnügen; bedenkt, dass ich ein Mann des Schwerts und der Reichsführung bin, nicht aber der Baukunst. – Also, könntet ihr mir etwas Derartiges bauen?“
„Es wäre äußerst schwierig, mit dieser kargen Grundlage, und bräuchte einige Zeit zur genauen Planung.“
„‚Schwierig‘ hör ich lieber als ‚unmöglich‘. Dann ist es ausgemacht, ihr baut mir einen solchen Turm, und, findet er meinen Beifall, werdet ihr mir bei Bedarf vor Feindesburgen weitere bauen dürfen. Was Geld betrifft“, er hob zwei Beutel vom Boden auf, „das müsste Anzahlung genug sein, und auch euer Stillschweigen abdecken. Die anderen Fürsten brauchen meine Pläne nicht zu kennen. Falls einer sich ebenfalls einen Turm bauen will, soll er seine eigenen Fachleute finden.“
Der Dombaumeister machte ein argwöhnisches Gesicht. Fürchtete er, dass Hagen Böses gegen seinen König vorhatte?
„Ich will mit allen Nachbarn im Frieden leben“, sagte Hagen, „doch ist es klug, wenn man statt auf die Aufrichtigkeit der Leute auf die eigene Wehrhaftigkeit baut. – Sollte euch der König nach dem Fortgang der Arbeit fragen, dürft ihr ihm jederzeit Auskunft geben, denn ich tue stets nur, was er gutheißt.“
Mit dieser Aufgabe versehen, schickte er beide wieder fort. Nun blieb noch einer zu empfangen, und wer das war, wusste Hagen selber nicht. Der Wahnsinn seines Vorgängers hatte dem herzoglichen Vermögen eine arge Wunde geschlagen: In blindwütigem Hass auf den Sohn, der keiner war, sondern nur ein Bastard, hatte der alte Herzog seine Schatzkammer leergeräumt und den kostbaren Inhalt im ganzen Land verstreut; in Abgründe geschüttet, in Quellen geworfen, in Seen versenkt. Nur einen Teil hatte man wieder gefunden, obwohl die Suche noch bis letzte Woche fortgeführt worden war. Verfluchter Narr! Jedes Mal brodelte der Zorn wieder auf, wenn Hagen nur das Wort „Gold“ vernahm.
Früher war das Herzogtum mit Gold und Silber wohl gesegnet gewesen – dank der Raserei des Alten hatte es die Hälfte seines Reichtums verloren!
Als Hagen vom Ende der Suche erfahren hatte, in der Pfalz zu Worms, waren – zu seinem Glück – der König und die Königsmutter dabei. Der Bote hatte die Hiobsbotschaft stammelnd überbracht; der Zorn traf Hagen wie ein Schlag, doch statt ihn wie sonst mit Kraft zu füllen, saugte er alle Stärke heraus, bis er nur noch eine leere Hülle war, in der das Herz wie irrsinnig schlug. Die Königsmutter bemerkte seine Erschütterung und führte ihn rasch zum nächsten Stuhl, indem sie erklärte, nie eine schlimmere Blässe gesehen zu haben, nicht einmal bei den Verblichenen auf dem Totenbett.
Ihm war so schwindlig, dass er den Boten nur mit fahriger Geste hinausschicken konnte; anstatt zu wüten und zu toben, musste er sich an den Armlehnen festklammern und hoffen, dass er nicht zur Seite kippte. Gunther reichte ihm einen Becher Wein, überspielte ihm zuliebe die eigene Empörung, und versprach mit tapferer Zuversicht, dass in bestimmt schon fünf Jahren die Schatzkammern wieder gefüllt wären wie vordem. Wäre Hagen nicht von der Anwesenheit einer Dame behindert gewesen, hätte er sich einem Schwall Flüchen hingegeben; so aber konnte er nur immer wieder den Kopf schütteln und matt raunen: „Die Hälfte, die Hälfte!“
„Ihr Männer wendet den Reichtum ohnehin nur für den Krieg auf“, sprach Frau Ute, „und wenn du in nächster Zeit vom blutigen Handel mit Tod und Sieg Abstand nimmst, wird dein Herzogtum nicht darben müssen.“
„Immerhin gehören dir nun die reichsten Fische des Reiches“, sagte Gunther, und schlug großmütig vor, Hagen sogleich die Einnahmen aus dem Wachsregal zu verpfänden, ihm gar ganz zu überlassen. Auch riet er ihm leise, da Hagen das Münzregal besaß, rasch alle Münzen einzuziehen, neue prägen zu lassen, schlechtern Werts natürlich, und den Gewinn der Schatzkammer einzuverleiben.
Letzteres wies Hagen von sich, und auf Ersteres musste er verzichten, da man ihn nur wieder Günstling heißen würde. Stattdessen bat er Gunther, ihm einen Mann zu empfehlen, der ihn in den leidigen Gelddingen leiten könnte und beraten. Sein König brauchte keinen Atemzug lang nachzudenken; ein triumphaler Glanz blitzte in seinen Augen, als er ihm versprach: „Da gibt es einen, ja, der geht mit dem Geld um wie du mit dem Schwert. Ich habe ihn selber schon des Öfteren zurate gezogen; bestens hat er sich bewährt. Den sende ich dir – aber du sollst ihn nicht hier empfangen, sondern fort von den rastlosen Mäulern der Leute.“
Jetzt würde er diesen Künstler des Geldes endlich zu Gesicht bekommen. Sein Knappe Friedrich kam herein und fragte, ob er den Mann hereingleiten solle. Ganz große Augen machte er dabei; es schien gerade, als müsse der Gast drei Arme haben oder Ähnliches.
„Nur zu.“
Wie staunte Hagen, als der Mann eintrat! Seine Haut hatte einen dunklen Ton, vergleichbar dem der Byzantiner; die Haare waren von einem Schwarz, wie man es selten sah im Rheinland – am auffälligsten aber der gelbe Hut, und die übrige Tracht.
Es war ein Jude.
Tief verneigte er sich, und blieb auch nach dem Aufrichten bescheiden am Zimmerende stehen. – Nun, mit Geld kannte sich der zweifellos aus.
„Nimm Platz“, sagte Hagen. „Dein Name war?“
„Gerson, edler Herzog. Eigentlich hätte mein Vater Isaak zu Euch kommen sollen, nach ihm hatte der König verlangt, doch da er leider erkrankt ist – die Plagen des Alters! – schickte er stattdessen mich. Ich werde mein Bestes tun, Euch zu beraten, als spräche seine Stimme mit meiner Zunge.“
Der Sohn war nicht mehr jung, bestimmt schon fünfunddreißig; er hatte gewiss Zeit genug gehabt, sich im Geschäft des Vaters Sachverstand und Geschicklichkeit anzueignen.
„Mit was genau handelt dein Vater?“
„Mit allem, Herr: Spezereien, Stoffe, Pferde, Felle. Wir sind die erfolgreichste Händlerfamilie der Wormser Juden. Unsere Leute fahren hinauf bis zum bernsteinschweren Norden, bis zu den Tuchwebern der Franzosen, sie bringen aus Sizilien weißes Elfenbein und aus Spanien rotes Leder; nach Byzanz bringen wir Handschuhe aus Paris, und kehren mit Glas und Seide wieder zurück.“
Gut, gut. Sein König wusste, wen man fragen musste.
Unvermittelt blickte dieser Gerson ihm direkt in die Augen und sagte: „Die Juden des Landes sind Euch sehr dankbar, dass Ihr damals die Händler aus Worms gerettet habt.“
Die Hunnen hatten sie überfallen, blut- und beutegierig, und hatten viele der armen Leute erschlagen. Nur das Eingreifen der Geiseln hatte die übrigen vor ihrem Verhängnis bewahrt.
„Waren es Händler deines Vaters? Warst du auch dabei? Ich glaube nicht, dich gesehen zu haben.“
„Nein, gütiger Herr, wir führen die Geschäfte stets von Worms aus. Es waren die Wagen unseres Vetters, in unserm Auftrag unterwegs. Als er heimkam mit der traurigen Botschaft von neun geliebten Toten, brachte er auch die Kunde von dem burgundischen Helden mit, der ohne Furcht wie ein zweiter David den Goliath der Hunnenwut besiegte. Seitdem sprach nie mehr ein Wormser Jude, dass der jährliche Tribut hoch sei.“
Hagen musste sich eingestehen, dass ihm die Anerkennung schmeichelte. Damit er nicht den falschen Eindruck hervorriefe, er sei umgänglich und Süßholzreden zugetan, ging er freilich nicht weiter darauf ein. „Ich hab dich herbestellt, weil ich deinen Rat wünsche. Wie allgemein bekannt, stürzte mein Vater am Ende seines Lebens in den Rachen der Geistesschwäche und hat, man weiß nicht warum, sein ganzes Gold verschleudert im bittersten Wortsinn. Was nicht die Elstern auflasen, das ruht wohl auf ewig im Moosbett dunkler Wälder oder am Grunde der Flüsse.“
Der Jude hörte mit einer so tiefen Anteilnahme zu, dass sich sein Gesicht wie im Schmerz verzog.
„Nun muss ich mich mühen, das Vermögen wiederherzustellen. Sag mir, wie gehe ich dabei vor?“
Der Jude antwortete unverzüglich: „Ihr könntet die Abgaben Eurer Bauern von Naturalien in Geld umwandeln. Der König und einige Fürsten in fremden Ländern haben dies schon teilweise eingeführt, und es hat stets ihre Einnahmen gesteigert. Die Bauern ziehen diese Abgaben den echten vor; verständlich, denn wer statt einer Kuh eine Handvoll Münzen abgibt, behält die Kuh und hat im nächsten Jahr noch Milch und Kalb.“
„Gut, ich will’s erwägen. Und weiters?“
„Senkt die Zölle an der Krähenfels-Brücke. Sie sind seit Jahren zu hoch – nicht Eure Entscheidung war’s, ich weiß – und lenken die Händlerzüge stattdessen in die Grafschaft Eures Nachbarn Albrecht von Herstein, obwohl’s ein Umweg ist. Daran merkt Ihr, wie ungeliebt die Zölle sind.“
„Wohlan, ich werde darüber nachdenken.“ Eine gewisse Ungeduld überkam ihn plötzlich und Ärger; Ärger, dass er sich Dinge anhören musste, die er nicht wusste. – Einfältiger Stolz! Ruhe jetzt! Es lag keine Schande darin, den Verstand kundiger Leute zu nutzen zum eigenen Vorteil; außerdem sollte er sich ein Beispiel an seinem König nehmen: der hörte mit Langmut jeden Tag Belehrungen an.
Der Jude brachte noch weitere Vorschläge an, so viele, dass Hagen ihm schließlich auftrug, eine Liste zu erstellen, um sie an seine Ministerialen weiterzugeben. Er wollte den Juden schon fortschicken mit einer wohl bemessenen Dankesgabe, als der bescheiden anfügte: „Und Ihr könntet es den Juden erlauben, wieder in Eurem Herzogtum zu wohnen. Euer Vater hat die Leute meines Volkes vor dreißig Jahren ja vertreiben lassen. Ich kenne mindestens ein Dutzend, die sich mit ihren Geschäften nur allzu gern in Tronje niederließen. Es würde Eurer Schatzkammer zuträglich sein.“
Doch würde man Hagen dann nicht auch vorwerfen, sich zu verbrüdern mit dem Volk, das, in alle Winde versprengt, trotz der alljährlichen Karfreitagsfürbitte den Messias nicht erkennen wollte? Denen, die sich des Rechts auf Zins erfreuten und sich, so hieß es, allzu oft am Wucher ergötzten? So würden die Leute reden. – Ja denn, das war die Belebung des Handels ihm wert. Sollten die anderen nur spotten; später müssten sie ihn beneiden. Außerdem hatte Gerd ihn gelehrt, dass einst eine kleine Anzahl Juden um die Schonung Christi gebeten hatte; das „Kreuziget ihn!“ schallte nicht aus ihren Kehlen. Ihre Nachfahren machten sich später auf und ließen sich nieder in der schönsten Stadt. Darum waren Wormser Juden fromme Juden.
Dem scharfsinnigen Gerson verriet Hagen natürlich noch nichts von seinem Entschluss; er beschied ihn nur mit dem bewährten: „Ich will’s erwägen.“
Neuer Abschnitt ab hier:
Eine Woche später begann Hagen seinen Umritt. Als vornehmes Gefolge würden ihn einige Grafen und Dankwart begleiten. Gunther verabschiedete ihn auf dem Hof der Pfalz. Seine Erleichterung, alle wichtigen Entscheidungen vertagen zu können bis zu Hagens Rückkehr, war ihnen beiden offenbar. Die anderen Pflichten des Königtums, die Ausübung von Freigebigkeit und Liebenswürdigkeit, würde er auch ohne den ersten Vasallen aufs Beste erfüllen.
„Gute Reise, Herzog, und nimm froh die Ehren deiner Untertanen entgegen. Sie könnten keinen klügeren Herrn besitzen.“
„Danke, mein König. Und sollte doch ein neues Unheil herannahen, verzweifle nicht, schicke unverzüglich einen Boten; ich komme sofort, und werd einen Tag früher da sein, als du vermuten wirst.“
Gunther sah zum Dom hinüber. „Ich bete jeden Tag, dass nichts geschieht. Burgund hat endlich Ruhe verdient.“
Sie umarmten sich. Schwungvoll sprang Hagen in den Sattel; sein Gefolge ebenso. Er grüßte einmal in die Runde, und sprengte dann zur Pfalz hinaus.
An den ersten Tagen der Reise gab es nichts Neues zu sehen: Dörfer, Klöster und Burgen waren ihm bekannt, und den Bewohnern war auch er kein neuer Anblick. Die Bauern auf dem Feld rannten herbei, wann immer sie den herrschaftlichen Zug erblickten, und trachteten mit aufgeregten Verbeugungen ihre Hingabe und Treue zu beweisen. Mit der einen oder andern Münze entlohnte er sie dafür. In den Klöstern bot man ihnen süßen Wein, versprach fromm und fleißig zu beten für all seine Unternehmungen, und bedauerte das Los seines Vorgängers. Zu jeder Burg ritt man hinauf und ließ sich gastlich empfangen. Die Herren der Burgen hatte Hagen am Tag seiner Herzogserhebung belehnt und ihren Treueid entgegengenommen; viele der Gattinnen, Söhne und Töchter traf er nun zum ersten Mal. Es war die immergleiche Mühsal: angestarrt zu werden wegen seiner blassen Haut, den Schauder der Leute geflissentlich zu missachten, und dann das umständliche Begrüßen mit Umarmen und Küssen. Ab und an kam es gar vor, dass sich ein Bengel oder Gör vor lauter Angst hinter die Röcke seiner Amme floh; das beantwortete er mit nachsichtigem Lächeln, aber die Eltern versetzte es stets in peinlichste Verlegenheit. Meist war es Dankwart, der dann mit ein paar heiteren Worten die Stimmung wieder aufhellte.
Ja, Dankwart erwies sich als vorzüglicher Reisegefährte, und Hagen müsste es sehr bereuen, wenn er ihn nicht mitgenommen hätte. Bereitwillig zeigte er ihm alle Furten, Mühlen und Waffenschmieden, wies ihn auf jeden umstrittenen Streifen Land hin, zeigte ihm die Besitzungen reichsimmediater Ritter und des Bischofs von Worms, wusste von jeder Pfründe, wem sie gehörte, und kannte, so schien es, jeden Handwerker und reichen Bauern im Land.
Am unverzichtbarsten erwies er sich jedoch im Kreise anderer Adliger, denn auf jeder Burg konnte er nicht schweigen, sondern erzählte gleich mit Seligkeit, dass seine Frau guter Hoffnung sei. Dabei strahlte er wie ein Kind über ein neues Spielzeug, und, bei aller gebotenen christlichen Anteilnahme – der Herrgott freute sich schließlich über jedes Kind – das war doch mehr als übertrieben. Selbst seinem König, wenn dessen künftige Gemahlin eines Tages ein Kind erwartete, würde Hagen mehr Mäßigung anraten: Es könnte ja auch nur ein Mädchen sein.
Dankwart aber übte sich ungezügelt in geradezu weibischer Entzückung. Während er plapperte über sein wachsendes Glücks, vom Seufzen der Frauen noch angespornt, stand Hagen reglos daneben und warf ihm nur einen langen Seitenblick zu. Besser könnte man den Grafen und Rittern nicht beweisen, welcher der beiden Tronje-Brüder für die Herzogswürde geeignet war: Hier der Ältere, trunken von einer Kunde, an der sich sonst nur Frauen berauschten, und daneben der jüngere, der Hunnensieger, klaren Verstands und kühlen Herzens.
Danke, Bruder.
Ein paar der Grafen äußerten den Wunsch, mit ihm zu fechten – da stellte er sich gerne. Es ging auch nicht um Leben oder Tod – Gunther könnte ihn also nicht tadeln! Großzügig schritt er auch ein drittes oder viertes Mal zum Kampf, doch keine einzige Niederlage besudelte seinen Ruf. Versöhnlich reichte er den Geschlagenen die Hand, und linderte die Schmerzen ihres Stolzes, indem er sagte: „Ihr habt es mir arg schwer gemacht!“ Die Eingebildeten tröstete das sehr, und die guten Kämpfer hatten nun auch noch seine Bescheidenheit zu bewundern.
Wo immer er hinkam, ehrte man ihn und sein Gefolge mit Musik, Festmählern und flatternden Fahnen. Ein halbes Dutzend Vasallen planten wohl, ihm ihre Tochter als Braut aufzuschwatzen; mehr als einmal fand er ein solches junges Mädchen beim Festmahl zu seiner Rechten sitzen und unter langen Wimpern zu ihm herüberspähen, während der Vater von links all ihre vermeintlichen Vorzüge aufzählte.
Hagen ging überhaupt nicht darauf ein und sprach stattdessen von Schlachten.
Nach fünf Tagen erreichten sie die nördlichen Gebiete des Herzogtums; hier war er nie zuvor gewesen. Das unausweichliche Staunen der Leute nahm leider zu, man starrte ihn an wie einen scheußlichen Fremden. Eine Schar junger Bauerntöchter, eben herangesprungen, um Blumen zu werfen, stob unter Kreischen wieder davon, und so mancher Dorfpriester bekreuzigte sich entsetzt, ehe er das Grußwort an Hagen richtete.
Furcht und Abscheu bekümmerten ihn nicht, nein – wohl aber, dass der Schrecken der törichten Leute bei seinem Gefolge bisweilen Belustigung auslöste.
Eine Weile lang ritt er schweigend vor sich hin, grübelte nach, wie er die anderen rügen könnte, ohne dabei empfindlich zu wirken, und gab nicht mehr Acht auf seine Umgebung.
Erst als Dankwart scharf seinen Namen rief, gab er das Nachdenken bedauernd auf und wandte sich halb um. „Was ist denn?“
„Da hält ein Reiter auf uns zu!“
Dort hinten, ja, der Staub der Straße kündigte ihn an. Er kam von Süden, im schnellsten Galopp.
Hagen brachte sein Pferd zum Stehen und rief der Vorhut denselben Befehl zu. „Wir warten auf ihn“, sagte er seinen Männern, „falls es ein Bote aus Worms ist.“
Böse Vorahnungen erhoben ihr hässliches Haupt. Möge der Herrgott seinen König beschützt haben! Totenwache spürte seine Unruhe und stampfte mit dem Huf auf.
Weil das Warten ihm schließlich zu lange ging, trabte Hagen dem Reiter entgegen. Wortlos folgten seine Männer.
„Werd doch nicht blass, raunte ihm Dankwart zu, es wird schon nicht –“
Hagen brachte ihn mit einer harschen Geste zum Schweigen.
Der Mann erreichte ihn endlich. Adalbert von Starenheim war es, einer des besten Reiter des Reiches. Mit seiner Beherrschung von Pferd und Ross hätte er sich in Etzels Heer keine Schande gemacht. Nun waren Hengst und Adalbert schweißbedeckt, erschöpft vom schweren Ritt.
Dreimal wollte der Kerl ansetzen, doch vor Japsen und Röcheln versagte ihm die Stimme.
„Zum Teufel, fass dich endlich!“, fuhr Hagen ihn an.
Der Kerl griff in die Satteltasche und zog ein zusammengefaltetes Schreiben heraus. Hagen entriss es ihm. Einen Augenblick lang starrte er auf das Siegel: Es war mit dem Ring seines Herrn gemacht, aber derart schlecht auf das Wachs gesetzt worden, dass die Hälfte des thronenden Herrscherbildes nicht eingedrückt war.
Fahrig brach er es auf und entfaltete das Pergament. Erleichterung, dass es Gunthers Schrift war – jedoch kaum leserlich und von Tintenflecken übersät. Zweimal schien sogar die Feder abgebrochen zu sein.
Er überflog die Zeilen. Gunther hatte mehrmals die Sprache gewechselt, damit der Brief, falls abgefangen, von falschen Köpfen nicht gedeutet werden konnte. Im Latein waren ihm Fehler unterlaufen – nichts bezeugte deutlicher seinen Zustand beim Verfassen.
Oh, verdammt. – Der Herr möge ihm und seinem Pferd Kraft verleihen.
Hagen faltete das Schreiben wieder zusammen und steckte es ein. Seine Gefolgsleute starrten ihn mit atemloser Besorgnis an. „Wir kehren um, Männer“, sagte er hart. „Ich reite voraus. Ihr kommt nach, so schnell Ihr könnt.“
Anmerkungen:
Anmerkungen:
Dieses Kapitel enthält eine der schwierigsten Szenen des ganzen Buchprojekts. Weiter unten wird ausgeführt, warum.
Der silberne Schild: In der Thidrekssaga verwendet Hagen einen silbernen Schild, um die Feinde zu blenden. Der Erzähler merkt an, dass diese List in späteren Zeiten verboten worden sei – dementsprechend wirksam muss sie gewesen sein. Jetzt hat er auch im Worms-Buch einen silbernen Schild! Ist er nicht cool?!
Belagerungstürme wurden im Hochmittelalter nördlich der Alpen nicht verwendet, in Byzanz und Italien sind sie jedoch eingesetzt worden. Als Heinrich der Löwe auf dem Italienzug Zeuge ihrer Wirksamkeit wurde, ließ er sich im Reich derartige Bauwerke für seine eigenen Kämpfe herstellen. (Hinweis auf Buch über Albrecht den Bären, Seite einfügen)
Ein grober Bauplan wird auf einem Pergament skizziert: Lange habe ich überlegt, welches mittelalterliche Schreibmedium für eine solche Aufgabe geeignet wäre. Zum einen gab es Wachstäfelchen aus Holz oder Elfenbein, zum anderen Pergament. Der Größe der Wachstäfelchen waren gewiss Grenzen gesetzt; ich kann mir nicht vorstellen, dass sie für die Niederschrift erster Überlegungen zu einem komplexen Bauwerk geeignet waren.
Da Pergamente größer sein konnten, schließlich war die Haut auch bei den Tieren das größte Organ, halte ich es für grundsätzlich möglich, hier Pergament zu verwenden. Zwar ist dieser Beschreibstoff teuer, doch der Hof eines mittelalterlichen Herzogs sollte diese Ausgabe verkraften können. Außerdem kann bei Pergament die Schrift auch wieder mit einem Messer vorsichtig abgekratzt und neu beschrieben werden, was für die Niederschrift eines Entwurfs, und sei er architektonischer Natur, womöglich praktisch ist. Naja, vielleicht sind meine Überlegungen auch falsch, aber ihr seht, dass ich mir Gedanken gemacht habe.
„dass ich ein Mann des Schwerts und der Reichsführung bin, nicht aber der Baukunst“: Dieser Satz bedarf eigentlich keiner Erläuterung – aber ich habe beim Schreiben trotzdem an Bismarck gedacht, der von sich sagte, dass er von moderner Technik nichts verstehe. (Titel des Bismarck-Bildbands einfügen)
„doch statt ihn wie sonst mit Kraft zu füllen, saugte er alle Stärke heraus, bis er nur noch eine leere Hülle war, in der das Herz wie irrsinnig schlug“: Die Beschreibung des Zorns bleibt hinter dem Erlebnis weit zurück. Ich ließ mich hierbei inspirieren von meinen eigenen Wutanfällen, die ich in einer der schlimmsten Phasen meiner Depression mindestens einmal pro Tag erlebte. Das ist keine Explosion mehr, sondern eine Implosion; und dass das nicht gesundheitsfördernd ist, spürt man ganz genau.
Gunther rät ihm, „rasch alle Münzen einzuziehen, neue prägen zu lassen, schlechtern Werts natürlich, und den Gewinn der Schatzkammer einzuverleiben“: Nach langer Abwägung kam ich zum Schluss, dass die Hauptfiguren in meiner Geschichte keine Meister im Umgang mit Geld sein sollen. Das Epos selbst bietet mir eine mögliche Basis dafür. Nicht ausschlaggebend für meine Schlussfolgerung waren die teuren Feste, die Gunther im Epos ständig ausrichtet, denn diese sind als Machtdemonstration unverzichtbar für einen mittelalterlichen König, von dem erwartet wird, dass er die Tugend der milte, die Freigebigkeit, zelebriert. Dass die Burgunden jedoch Brünhilds Schatz von Dankwart verschleudern lassen und Hagen Kriemhilds Erbe, den Nibelungenhort, im Rhein versenkt, ist zwar machtpolitisch sinnvoll, um die Frauen fortan daran zu hindern, Anhänger um sich scharen, ändert aber nichts an der Tatsache, dass bedeutende finanzielle Mittel einfach verloren sind. Hätten sie die Mittel nicht auch anderweitig verwenden können, um die eigene Machtbasis zu stärken? (Wobei die Versenkung des Hortes natürlich ein kraftvolles Bild und daher innerhalb der Geschichte richtige Lösung ist! Eine Frage aus der realen Welt: „Warum nutzen die das Geld nicht?“ an die fiktiven Akteure zu richten, wäre als Textanalyse gewiss falsch, aber als Grundlage für ihre Charakterisierung in einer Fancfiction-Story wohl gerade noch erlaubt.) Der Merowingerkönig Chilperich I. zum Beispiel, Halbbruder von Guntram und Sigibert, hatte keine Hemmungen, sich des Schatzes der Dynastie zu bemächtigen. Preußens Ministerpräsident Otto von Bismarck verwendete nach der Annexion des Königreichs Hannover das nicht unbedeutende Vermögen der Welfendynastie, um regierungsfreundliche Zeitungsartikel zu lancieren (Reptilienfonds). Also kam ich zum Schluss, dass die Wormser in meiner Interpretation nicht souverän im Umgang mit Geld sein sollen. (Einer von beiden ist sowieso viel zu „overpowered“.) Was Gunther seinem Lehnsmann hier vorschlägt, zeugt daher nicht von pekuniärer Weitsicht: Eine künstlich herbeigeführte Abwertung des Gelds ist selbstgemachte Inflation.
Der Jude Gerson: Sein Name ist inspiriert von Gerson (später von) Bleichröder, dem jüdischen Bankier von Otto von Bismarck. Auch Bismarck hatte im Umgang mit Geld seine Schwierigkeiten; vor allem in seinen jungen Jahren floss mehr ab, als hereinkam. Dank Bleichröders kluger Anleitung wurde er im Laufe der Jahre schuldenfrei. Bleichröder legte übrigens eine Steinsammlung an, die Steine von den preußischen Schlachtfeldern der Einigungskriege enthielt. Wilhelm I. kam einmal zu Besuch und hat sich die Steinsammlung angeschaut.
„Unsere Leute fahren hinauf bis zum bernsteinschweren Norden“: Händler verwendeten zum Transport keine eigenen Wagen, sondern ließen sich und die Ware gegen eine Entlohnung etappenweise von den Bauern der Region transportieren. Ist es nicht faszinierend, dass dadurch Angehörige verschiedener Religionen und Gesellschaftsschichten in Kontakt kamen?
„Es waren die Wagen unseres Vetters, in unserm Auftrag unterwegs“: Das widerspricht sich mit dem oben genannten; als diese Händler in Band 2 auftraten, wusste ich noch nicht, dass Händler meist auf Fahrzeuge von Anwohnern auswichen. Da die Juden in Band 2 jedoch eine lange Strecke durch eine wenig besiedelte Steppenregion reisen mussten, ist es möglich, dass sie kurz vorher eigens Wagen kauften. Noch sinnvoller wäre es gewesen, von Packpferden zu schreiben … Vielleicht wird das später angepasst.
„Der Jude hörte mit einer so tiefen Anteilnahme zu, dass sich sein Gesicht wie im Schmerz verzog“: Das ist einer der Sätze, der natürlich negativ ausgelegt werden könnte. Dem jüdischen Händler sei Geld so wichtig, dass ihm selbst der Verlust von fremdem Geld geradezu physischen Schmerz bereitet. – Ist das noch ein vergnügter Scherz, oder bereits das gedankenlose Nachplappern von Klischees, die, im Verein mit vielen anderen Faktoren, zum größten Verbrechen der Weltgeschichte führten? Andererseits ist die Verschleuderung von Geld wirklich eine dumme Sache, und ich denke, die meisten meiner Bekannten hätten ebenfalls eine mitfühlende bis schockierte Reaktion, wenn ein echter Mensch aus dem echten Leben mutwillig viel Geld zerstörte. Ich hoffe, man sieht, dass ich lange darüber nachgedacht habe. Ich kam zögerlich zum Ergebnis, dass der Satz zwar ein Klischee enthält, aber sobald man darüber nachdenkt, ist es eine universelle Reaktion auf den unverantwortlichen Umgang mit Geld.
„Senkt die Zölle an der Krähenfels-Brücke“: Zollsenkungen waren ein machtvolles Werkzeug im Mittelalter (und später auch noch). Mit der Befreiung von den Zöllen an den königlichen Zollstätten belohnte Heinrich IV. 1074 die Wormser „Juden und die anderen Bewohner von Worms“, weil sie ihm als einzige in der Zeit des Sachsenaufstands treu zur Seite gestanden hatten. – Die Zuerstnennung der Juden fand ich immer schon bemerkenswert. (Siehe „Worms. Eine Spurensuche“ von Ralph Häussler, S. 54–55). Die Brücke jedoch ist frei erfunden. Irgendwann muss die Recherchearbeit auch einmal aufhören, sonst werde ich nie fertig!
„eine Liste zu erstellen“: Das wirkt ja geradezu bürokratisch. Allerdings hat schon der Burgunderkönig Gundobad (gestorben 516) seinen Bischof und Berater in theologischen Fragen, Avitus von Vienne, in den erhaltenen Briefen gebeten, ihm eine (sogar kommentierte) Liste zu erstellen.
„Würde man ihm dann nicht auch vorwerfen, sich zu verbrüdern mit dem Volk, das, in alle Winde versprengt, trotz der alljährlichen Karfreitagsfürbitte den Messias nicht erkennen wollte? Denen, die sich des Rechts auf Zins erfreuten und sich, so hieß es, allzu oft am Wucher ergötzten?“: Das ist die wohl schwierigste Stelle des Buches. Der Antisemitismus in der mittelalterlichen Welt und in der katholischen Kirche ist allgemein bekannt: Dem Laien fallen als erstes Kreuzzugspogrome (auch in Worms), Ritualmordanschuldigungen und Vorwürfe der Brunnenvergiftung ein. Auch die vorgeschriebene Tracht war ein Mittel der Unterdrückung. Die Karfreitagsfürbitte in der katholischen Kirche bat Gott, dass er die Juden der „Verblendung“ entreiße und zur Erkenntnis des Messias führe. Sie war (in ihrer antijudaistischen tridentinischen Form) noch Jahre nach der Shoa in Gebrauch und wurde dann langsam verändert. – Nun ist diese Geschichte, die ich schreibe, sehr trivial und in den Augen der Welt völlig belanglos – trotzdem finde ich: Den mittelalterlichen und kirchlichen Antisemitismus nicht zu erwähnen, hieße, das Leid zahlloser Menschen auszublenden. Ich empfinde es als Verantwortung, ihn zu thematisieren. Infolgedessen stellte sich mir die Frage: Wie füge ich den Antisemitismus der Zeit ein, ohne dass es zur mittelalterlichen Hassrede wird? Und wie lasse ich die Hauptfigur reagieren, die, auch wenn sie eine eigene Meinung hat, in ihrer Zeit verhaftet sein soll? Ich habe es wie folgt gelöst, und hoffe, es ist mir ordentlich gelungen:
Hagen erwähnt in seinem Monolog die Vorwürfe der Zeitgenossen, scheint sie jedoch teilweise in Frage zu stellen durch den Einschub „so hieß es“. Dadurch zeigt er sich als weniger empfänglich für hetzerische Parolen. Er beschließt, trotz der Kritik der Christen Gersons Rat anzunehmen und den Juden die Rückkehr zu erlauben. Allerdings ist hier nicht menschliches Mitgefühl, sondern reines Kalkül am Werk, als Beweis, dass auch Hagen als Produkt seiner Zeit Antisemitismus verinnerlicht hat: Die „gute Tat“ geschieht nur aus Eigennutz. (Wobei er ansonsten auch nicht als Menschenfreund angelegt ist und so gut wie jeden als Werkzeug sieht.) Die Geschichte von den „frommen Wormser Juden“, die sich gegen die Kreuzigung Jesu aussprachen, kursierte wirklich. Offenbar steht Hagen den Wormser Juden positiv gegenüber; doch selbst dies ist verdeckter Antisemitismus: Eine Minderheit zu loben, dass sie sich über die angebliche Minderwertigkeit (oder „Erbschuld“) ihrer Gruppe erhoben habe, ist immer noch diskriminierend. – Das würde ein Mensch des Mittelalters jedoch kaum begreifen; selbst manche heutigen alten weißen Männer verstehen das nicht immer. Also ist die fürs christliche Mittelalter typische Intoleranz gegenüber Juden bei ihm noch immer vorhanden, wenngleich in einer weniger aggressiven Form. Hätte ich ihn einfach zu einem weltoffenen Kämpfer gegen Antisemitismus gemacht, hätte dies die Schwere des Problems falsch dargestellt. Systemische Unterdrückung durchtränkt die ganze Gesellschaft und alle Interaktionen. Ich habe mich für eine nuancierte Darstellung entschieden, wobei es beabsichtigt ist, dass die Leserinnen klarer sehen als die Figur und eben auch seine Sympathie für die Wormser Juden als „unbewusstes Vorurteil/unconscious bias“ erkennen.
Ich könnte auch noch über die Darstellung der Figur des Hagen in verschiedenen Wagner-Inszenierungen sprechen, bei denen man ihm „jüdische“ Züge verlieh, doch das würde zu weit führen. Auf jeden Fall habe ich mir Gedanken gemacht.
– Ich habe außerdem vor, Gerson noch öfter auftreten zu lassen, wobei zwischen ihm und Hagen ein respektvolles Arbeitsverhältnis entsteht.
„Ihr habt es mir arg schwer gemacht!“: Ich hatte früher einen Bekannten, der an Selbstverteidigungskursen teilnahm. Einmal erzählte er mir ganz begeistert, er sei gegen einen Meister in seiner Disziplin angetreten, völlig informell, bei einer normalen Trainingsstunde. Er habe verloren, doch der Meister habe ihm gesagt: „Es war mein härtester Kampf!“ Ich war so freundlich und verzichtete darauf, anzumerken, dass der Meister dieses Lob bestimmt an jeden verteilt …
„Dabei strahlte er wie ein Kind über ein neues Spielzeug, und, bei aller gebotenen christlichen Anteilnahme – der Herrgott freute sich schließlich über jedes Kind – das war doch mehr als übertrieben. Selbst seinem König, wenn dessen künftige Gemahlin eines Tages ein Kind erwartete, würde Hagen mehr Mäßigung anraten: Es könnte ja auch nur ein Mädchen sein“: Diesen Satz finde ich zugegebenermaßen ziemlich gelungen. Erst denkt man, die Pointe sei das Beckenbauer-Zitat („Der liebe Gott freut sich über jedes Kind“, gesagt von Franz Beckenbauer, das war ein Fußballer und Funktionär und irgendwas mit Bayern München und Katar), bis die eigentliche Pointe kommt: das Patriarchat! Auch wenn es lustig scheint, steht natürlich Wahrheit dahinter: In einem System, das Männern mehr Wert zuspricht als Frauen, wird die Geburt weiblicher Kinder zur Enttäuschung. Bekannte und weniger bekannte Beispiele: Afghanische Männern kondolieren anderen Männern zur Geburt einer Tochter (siehe das Buch von Zarifa Ghafari), die Pakistani werfen einem Jungen Geld und Süßigkeiten in die Wiege, einem Mädchen hingegen nicht (siehe Buch von Malala), in Nordindien gilt: „Mögest du hundert Söhne haben“ als Segenswunsch für Frauen, Heinrich VIII. von England war besonders vergrämt über den Mangel an (körperlich fitten, legitimen Söhnen) und die alten Römer setzten weibliche Säuglinge sogar vor der Stadt aus. Darum ist es im Rahmen dieses ungerechten Systems nicht verwunderlich, dass Hagens Sorge darauf gerichtet ist, seinem König die Enttäuschung zu ersparen. Auch dies ist ein weiteres Element des Patriarchats: Mitgefühl, Empathie und Sorge empfinden Männer nur für Männer. Es ist fast schon rührend, dass Hagen, von mir als eiskalt konzipiert, seinen König geradezu fürsorglich vor einem Problem schützen will, das vom Patriarchat künstlich geschaffen wurde. Also, ich finde den Satz böse, aber lustig. Frauen wissen selber am besten, wie sie die Welt erleben.
Jetzt ist das Kapitel aus.